0619 - Killer-Blasen
Ich wäre nur gestürzt.
»Wann halten wir?« fragte ich beim Umdrehen.
»Das weiß nur der Direktor.«
»Ich muß jedenfalls zu ihm.« Vor dem Tisch blieb ich stehen und schaute die beiden an. »Versteht ihr das?«
Auch Joschi nickte.
»Welche Möglichkeiten gibt es da, ohne daß ich über die Straße laufen muß?«
»Keine.«
Ich verengte die Augen, weil mir eine Idee gekommen war. »Wirklich keine, Kaiinka? Oder soll ich es über die Dächer der Fahrzeuge versuchen.«
»Das ist gefährlich.« Sie sprang auf und setzte sich sofort wieder hin.
»Hör zu. Ihr habt Öfen in den Wagen, die Hitze steigt nach oben. Sollte auf den Dächern tatsächlich eine Eisschicht gelegen haben, so muß sie längst weggetaut sein. Die Wärme schmilzt das Eis…«
»Schon, aber…«
»Es gibt keinen anderen Weg für mich.« Ich deutete zur Tür. »Ich werde auf das Dach klettern und mich dort weiter zur Spitze hinbewegen.«
Die junge Russin nickte. Danach übersetzte sie ihrem Freund Joschi mein Vorhaben, der zunächst erschrak, dann ein bedenkliches Gesicht zog und die Schultern hob.
»Er ist der Meinung, daß es nicht klappt.«
»Das habe ich gesehen. Ich muß es trotzdem tun. Es sollen nicht noch mehr Menschen sterben. Diejenigen Toten, die es gegeben hat, die sind schon zuviel.«
»Bestimmt.«
Beide standen auf, als ich den Weg zur Tür einschlug. Was ich vorhatte, war ein großes Risiko, zwar keine Vorstufe zum Selbstmord, viel allerdings fehlte nicht.
Ich zerrte die Tür auf und konnte mir gratulieren, daß wir uns im letzten Wagen befanden. Obwohl die Schlange sich nur langsam vorwärts bewegte, erzeugte sie Fahrtwind, der mir eisig ins Gesicht schlug. Die Räder wühlten sich durch Schnee und Eis. Sie schleuderten winzige Kristalle hoch, die unter anderem auch gegen mein Gesicht gewirbelt wurden und in die Haut bissen.
Ich war der einzige, der aus dem Wagen schaute. Dann drehte ich meinen Kopf und richtete den Blick in die Höhe. Das Dach stand zu beiden Seiten vor. Wenn ich mich streckte, konnte ich den vereisten Rand erreichen. Weiter vorn, wo der Ofen stand, tropfte Wasser von den Rinnen auf die Straße herab.
Die dicke Jacke streifte ich ebenso über wie meine gefütterten Handschuhe. Sie besaßen Finger, deshalb würde ich auch greifen können. Kalinka wünschte mir viel Glück, und Joschi schlug mir zum Abschied auf die Schulter. Er hatte mit mir Frieden geschlossen.
Noch in der Tür stehend, drehte ich mich herum, streckte den rechten Arm aus und umklammerte mit der Hand den vorspringenden Dachrand. Mit der linken hielt ich mich fest.
Eine kurze Überprüfung bewies mir, daß der Rand mein Gewicht wohl halten würde.
Noch einmal bohrte sich beim Atemholen die kalte Luft in meine Lungen, dann zerrte ich mich in die Höhe. Zunächst mit einem einhändigen Klimmzug, wenig später faßte ich nach. Mit beiden Händen zog ich mich schneller hoch, wobei meine Fußspitzen über die Außenwand des Fahrzeugs schabten, ohne Halt zu finden. Ich rutschte immer wieder ab.
Auch das Eis an der Kante bröckelte. Ich mußte nachfassen und erwischte so etwas wie einen Griff oder Haken, der aus dem Dach hervorragte. Das tat mir gut.
Wenig später schon konnte ich über die Kante rutschen und blieb flach auf dem Wagendach liegen.
Der Wind biß in mein Gesicht. Ich hätte doch die Mütze aufsetzen sollen. Damit mir die Ohren nicht abfroren, wickelte ich mir einen Teil des Schals um den Kopf, blieb breitarmig und -beinig liegen und sondierte die Lage.
Ich hatte mich nicht geirrt. Zwar lag in meiner unmittelbaren Nähe eine Eisschicht auf dem Dach, doch weiter vorn, wo auch der Ofen stand, da war das Eis getaut und zu Wasser geworden.
Dort mußte ich hin.
Ich kroch vor und bedauerte wieder einmal die Rekruten, die durch den Schlamm kriechen mußten.
Der Wagen fuhr zwar, er schwankte auch auf dem glatten Boden.
Manchmal rutschte er von einer Seite zur anderen, ich rutschte mit, konnte mich aber halten.
Auf dem nassen Dach sogar besser. Als ich die Arme ausstreckte, umfaßten meine Finger bereits den vorderen Rand des Wagens. Unter mir befand sich jetzt der kleine Schlafraum, wo auch das Skelett auf dem Bett lag.
Ich zog mich noch weiter vor, um in die Tiefe zu schauen, denn der folgende Wagen war mit Planen und Eisenstützen beladen, er fuhr nur Material.
Wenn ich sprang, mußte ich eine Distanz überwinden. Noch zögerte ich, schaute hinunter und hielt nach einer Stelle Ausschau, wo ich einigermaßen gut landen
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