062 - John Flack
bevor er hierher kam«, sagte sie kopfschüttelnd und fuhr fort, ihm von Ravinis Aufregung und Olga Crewes Tränen zu erzählen.
»Sie weinte . . ., hm!« Mr. Reeder streichelte zärtlich seine Nase. »Haben Sie sie seither wiedergesehen?«
Und als das junge Mädchen verneinend den Kopf schüttelte:
»Sie ist am nächsten Morgen wohl sehr spät aufgestanden - hatte möglicherweise Kopfschmerzen?« fragte er gespannt, und ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen.
»Aber ja. Woher wissen Sie denn das -«
Mr. Reeder befand sich aber nicht in mitteilsamer Stimmung.
»Ihre Zimmernummer ist -?«
»Nummer 4. Miss Crewe hat Nummer 5.« Reeder nickte.
»Und Ravini hatte Nummer 7 - also zwei Türen weiter.« Dann sagte er schnell: »Wo haben Sie mich untergebracht?«
»In Nummer 7. Mr. Daver hat das angeordnet. Es ist eines der besten Zimmer im Haus. Aber ich warne Sie, Mr. Reeder, der Besitzer ist ein eifriger Kriminologe und tut nichts lieber, als sich über seine Liebhaberei zu unterhalten.«
»Sehr angenehm«, murmelte Mr. Reeder, aber seine Gedanken waren woanders. »Könnte ich Mr. Daver sprechen?«
Der Viertelstunden-Gong hatte bereits geläutet, und sie führte Mr. Reeder in das Büro im Neubau. Mr. Davers Schreibtisch war überraschend sorgfältig aufgeräumt. Er prüfte ein Kontobuch durch seine große Hornbille und sah fragend auf, als sie eintraten.
»Mr. Reeder«, stellte sie vor und zog sich zurück.
Eine Sekunde lang sahen sie einander an: der Detektiv und der kleine Besitzer mit dem Koboldgesicht. Dann lud Mr. Daver seinen Besucher mit majestätischer Handbewegung zum Sitzen ein.
»Ich bin sehr stolz, Mr. Reeder, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er und klappte in einer tiefen Verbeugung zusammen. »Als ein niedriger Schüler aller jener großen Schriftsteller, deren Werke Ihnen zweifellos bekannt sind, habe ich die Ehre und den großen Vorzug, einen Mann kennenzulernen, den ich den modernen Lombroso nennen möchte . . . Sie pflichten mir bei...? Ich war überzeugt davon.«
Mr. Reeder sah nach der Decke.
»Lombroso?« wiederholte er langsam. »Ein - hm - Italiener, glaube ich? Der Name ist mir nicht unbekannt.«
Margaret Belman hatte die Tür nicht völlig geschlossen, und Mr. Daver stand auf und zog sie zu. Dann kehrte er mit ausgestreckter Hand zu seinem Stuhl zurück und setzte sich.
»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Ihr Kommen ist wirklich eine große Erleichterung für mich. Die ganze Zeit über, seit gestern morgen, habe ich mir schon überlegt, ob ich nicht diese wundervolle Einrichtung - Scotland Yard - anrufen und bitten müßte, mir einen ihrer Beamten zu schicken, um dieses merkwürdige und vielleicht auch schaurige Rätsel zu lösen.«
Er hielt inne, um seinen Worten einen größeren Nachdruck zu verleihen.
»Ich spreche von dem Verschwinden von Mr. George Ravini, einem Gast von Larmes Keep, der das Haus gestern morgen um drei Viertel fünf verlassen hat und gesehen wurde, wie er nach Siltbury ging.«
»Wer hat ihn gesehen?« fragte Mr. Reeder.
»Einer der Einwohner von Siltbury, dessen Name mir im Augenblick entfallen ist. Oder vielmehr, ich habe seinen Namen überhaupt nicht gekannt. Ich traf ihn zufällig, als ich in die Stadt ging.«
Er lehnte sich über den Schreibtisch und starrte Mr. Reeder wie eine blinzelnde Eule ins Gesicht.
»Sie sind wegen Ravini gekommen, nicht wahr? Sie brauchen mir nicht zu antworten: Ich weiß, daß Sie deswegen gekommen sind! Man konnte natürlich nicht erwarten, daß Sie, sozusagen, das Herz auf der Zunge tragen würden. Habe ich nicht recht...? Ich weiß, daß es so ist.«
Mr. Reeder stimmte dieser Schlußfolgerung nicht bei. Er erweckte den Eindruck, als ob er nicht zum Sprechen aufgelegt wäre, und unter anderen Verhältnissen würde Mr. Daver diese Zurückhaltung mehr beachtet haben, aber:
»Begreiflicherweise möchte ich nicht, daß Larmes Keep in einen Skandal hineingezogen wird«, sagte er, »und ich darf wohl mit Ihrer Diskretion rechnen. Das einzige, was mich direkt betrifft, ist, daß Ravini weggegangen ist, ohne seine Rechnung zu bezahlen. Das ist vielleicht eine kleine und unwichtige Seite einer Sache, die möglicherweise zu einem außergewöhnlichen Fall werden kann. Verstehen Sie meinen Gesichtspunkt...? Selbstverständlich begreifen Sie ihn.«
Er machte eine Pause, und nun begann Mr. Reeder.
»Drei Viertel fünf«, sagte er nachdenklich, als ob er zu sich selber spräche, »es war kaum hell, nicht
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