0624 - Der Schädel des Riesen
beschreiten?
Abermals dachte ich an die Szene in meiner Wohnung. Wie Melusine de Lacre den Dunklen Gral genommen und kurzerhand in ihn hineingetaucht worden war.
So war sie auf die Nebelinsel gereist. Mich aber hatte der Schattenreiter geholt, um mich nach Avalon zu bringen. Würde er mich jetzt indirekt dorthin schaffen, wo sein Schädel schon die Jahrhunderte über stand? In ein Gebiet nördlich von London?
Ich zögerte noch. Es lag möglicherweise auch an meinem Alter, denn der Schwung der Jugend war dahin. Entschlußfreude prägte mich nicht gerade.
»John, tu es!«
Ich zuckte zusammen, als ich hinter mir die Stimme des kleinen Magiers vernahm.
»Ja, es ist deine letzte Chance!« drängte auch Kara.
Ich drehte mich um. Die beiden hatten die Hütte lautlos betreten und sich zu beiden Seiten des Eingangs aufgebaut.
Hinter und zwischen ihnen, zeichnete sich die Gestalt des Eisernen Engels ab. Auch er nickte mir zu.
»Deine letzte Chance, John! Sie ist dir durch den Gral, durch dein Kreuz und an diesem magischen Ort noch einmal eröffnet worden. Du solltest sie nutzen.«
»Wie denn, Kara?«
»Denk daran, was Melusine de Lacre getan hat.«
»Eintauchen…«
»Ja.«
»Du meinst, er würde mich…?«
Kara kam vor. Sie schaute mich aus ihren dunklen Augen beschwörend an. »John, so kenne ich dich nicht! So habe ich dich noch nie erlebt. Was ist los?«
»Ich bin nicht mehr…«
»Das weiß ich. Man hat dir dein normales Alter genommen. Aber du mußt es zurückkriegen.«
»Wie denn?« keuchte ich.
Kara umklammerte meine Schultern. Sie schüttelte mich durch, und ich ließ es geschehen. »Das ist ganz einfach, John Sinclair. Denke einmal anders. Springe über deinen eigenen Schatten. Erinnere dich daran, wer du einmal gewesen bist. Keiner, der wegen einer solchen Sache gezögert hätte, verdammt. Geisterjäger wurdest du von deinen Freunden genannt. Und du hast, das wissen wir alle, deinem Namen Ehre eingelegt. Du hast nie aufgegeben, du hast nicht gezögert, du hast dich sogar der übermächtigen Hölle gestellt, selbst vor Luzifer, dem absolut Bösen, bist du nicht in die Knie gegangen. Wenn der echte John Sinclair diesen hier sehen könnte, würde er sich schämen.«
Kara gab es mir, und ich hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Ich starrte ins Leere, über mein Gesicht rann der Schweiß. Das Kreuz vor meiner Brust kam mir dreimal so schwer vor wie sonst. Ich konnte einfach nicht, noch nicht…
»Hast du es begriffen, Geisterjäger?« schrie sie mich hart und wütend an.
»J… ja!«
»Dann tu es, John! Gönne dir und uns allen diese eine Tat. Wir müssen wieder so werden wie früher, wir müssen zu einem Team zusammenwachsen. Du weißt selbst, welch gewaltige Aufgaben vor uns liegen. Deshalb bitte ich dich, John…!«
»Welche Sicherheit habe ich, daß es klappt?«
Kara lachte scharf. »Was soll die Frage, John? Welche Sicherheit hast du denn, wenn es nicht klappt. Meine Güte, hast du mit deinen Jahren auch den Verstand verloren? Okay, ich kann verstehen, daß es schlimm in dir aussieht, sehr schlimm sogar, doch Mitleid ist nicht mehr angesagt, John Sinclair. Das ist vorbei, verstehst du? Wir werden kein Mitleid mehr mit dir haben.«
Ich nickte.
Myxin kam ebenfalls, der Eiserne hielt sich zurück. Er sah die Szene mehr als eine Privatsache zwischen uns dreien an.
»Wie hast du dich entschieden? Noch steht die Brücke!« erklärte der Magier mit warnender Stimme.
»Ja.«
»Du machst es?«
Meine Haut zuckte, als ich nickte. »Ich werde versuchen, die letzte Chance zu nutzen. Sollte ich…?«
»Denk nicht an das Gegenteil, John.« Kara hielt mich noch immer fest und drehte mich jetzt herum.
Vor mir sah ich den Dunklen Gral mit dem Gesicht des Riesen in der Kugel.
Lockte es mich?
Auf einmal hatte ich den Eindruck. Der Mund schien sich zu bewegen. In den Winkeln zeichnete sich ein tückisches Grinsen ab.
Eine Falle!
Ich wollte nicht, ich wollte es Kara sagen. Vielleicht würde sie es dann erkennen und…
»Nein, John, nein!« drängte sie, und sie tat etwas, das mich völlig überraschte.
Sie sprach die Formel.
»Terra pestem teneto – Salus hic maneto!« Damit hatte sie es geschafft, das Kreuz zu aktivieren.
Etwas durchzuckte mich, ich schaute in das Licht, und dann erwischte mich die Magie. Ich kam gegen sie nicht mehr an. Mit unwiderstehlicher Gewalt zerrte sie mich nach vorn und hinein in den Dunklen Gral.
Kara und Myxin hatten gewonnen. Ich war wieder einmal zu einem Spielball
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