063 - Die linke Hand des Satans
unterliegst?"
„Dann behalte mich in guter Erinnerung, Georg!"
Sie drückte mich wieder an sich und bot mir ihre Lippen dar. Für einen Moment ergriff mich Panik. Wenn sie nun falsches Spiel mit mir trieb? Wenn ihr Kuß nur ein Vorwand war, um mir das Leben auszusaugen?
Narr schalt ich mich und küßte sie. Alraune war voll glühender Leidenschaft, und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, daß sie einst eine unbeseelte Pflanze gewesen war, mit ihren Wurzeln fest im Boden verankert.
Der Kuß währte eine süße Ewigkeit, und als ich mich von ihren Lippen löste und die Augen öffnete, sah ich, daß wir von Reitern umringt waren. Es waren schwarze Freischützen des Burgherrn. Stumm hatten sie darauf gewartet, bis wir ihrer gewahr wurden, ihre Armbrüste schußbereit auf mich gerichtet.
„Du hast mich in eine Falle gelockt!" entfuhr es mir ungewollt.
„Das kannst du nicht von mir denken, Georg", sagte Alraune traurig. Sie wandte sich den Freischützen zu und herrschte sie an: „Verschwindet!"
Und sie gehorchten.
Alraune wandte sich wieder mir zu. „Es schmerzt mich, wenn du schlecht von mir denkst. Dabei solltest du wissen, warum ich mit Mephisto gegangen bin."
„Um mich zu retten", sagte ich. „Aber seit damals ist so viel Zeit verstrichen."
„Deinetwegen und wegen 'des armen Mädchens", fuhr sie fort, ohne auf meinen Einwand zu reagieren.„ Ich glaube, ich habe wieder gutgemacht, was Mephisto ihr antat. Erinnerst du dich, Georg, daß ich sagte, ich würde ihr die abgeschlagene Linke durch meine Hand ersetzen? Und stelle dir vor, es ist mir auch gelungen, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich habe dem Mädchen eine Hand zurückgegeben. Du müßtest sie sehen..."
„Ich habe sie gesehen", antwortete ich mit belegter Stimme.
„Dann weißt du, daß ihre neue Hand mehr als nur ein Ersatz für die alte ist", fuhr sie eifrig fort. Ihre Augen leuchteten, und ihr Gesicht strahlte vor Freude. „Ich habe auch erreicht, daß sie zu ihrem unglücklichen Geliebten zurückgehen durfte. Mephisto hat sie auf meinen Wunsch zu Dr. Faust zurückgeschickt. Oh, ich habe die beiden einmal aus der Ferne beobachtet. Helenas Hände bedeuten für den Doktor höchstes Glück."
„Das hast du getan?" fragte ich verwirrt.
Dann steckte hinter diesem Schachzug gar keine Teufelei des Mephisto? Alraune hatte auf jeden Fall in guter Absicht gehandelt. Vielleicht war aber auch sie von Mephisto getäuscht worden.
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich war kaum mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen und fragte nur: „Wie hast du das angestellt, Alraune? Wie ist es dir gelungen, dem Mädchen ihre Band zurückzugeben?"
Sie entfernte sich mit langsamen Schritten von mir, ging dahin wie eine Traumwandlerin, während sie mit leiser Stimme erzählte: „Es war ganz einfach, Georg. Du weißt, von wem ich abstamme. Die Pflanzen sind mit mir verschwägert, die Mandragoren sind meine Schwestern. Ich habe die abgeschlagene Hand des Mädchens unter Alraunen vergraben und meine Schwestern gebeten, diese tote Hand durch eine andere zu ersetzen, die von überirdischer Schönheit sein sollte. Und die Alraunen haben mir meine Bitte erfüllt."
Alraune sprach davon, als sei es überhaupt nichts Besonderes. Und es schien sie auch tatsächlich keine besondere Anstrengung gekostet zu haben, aus der Wurzel einer Alraune eine menschliche Hand zu schaffen. Ich fragte mich, welche . übernatürlichen Fähigkeiten noch in diesem Wesen schlummern mochten. Mein Entschluß, sie den Einflüssen des Bösen zu entziehen, stand nur noch fester.
„Es ist spät, und ich muß jetzt gehen, Georg", sagte sie bedauernd. „Man erwartet mich auf der Burg. Ich darf Mephisto nicht warten lassen, will' ich nicht sein Mißtrauen erwecken. Aber ich weiß ja, daß du mir immer sehr nahe bist. Und das ist ein schöner Trost für mich. Ich bitte dich innig, mich bald auf der Burg zu besuchen. Den dämonischen Burgherrn hast du nicht zu fürchten."
Ich sah ihr nach,. wie sie davonritt. Das Pferd schien mit ihr zu schweben.
Nachdenklich, innerlich aufgewühlt, zerrissen und voll widerstrebender Gefühle kehrte ich nach Wittenberg in das Haus von Dr. Faust zurück.
Gegenwart
„Die Alraune dieser Geschichte", schloß Dorian seine Erzählung, „ist mit der Hexe Hekate identisch, Tim. Das steht längst für mich fest. Und wie die schöne Helena hat auch Maria Ramos zumindest eine ihrer Hände von Hekate erhalten. Du mußt diese Parallele erkennen, Tim."
Tim Morton
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