0638 - Das Palazzo-Gespenst
vorn.
Rosanna Brandi meldete sich mit einer so zittrigen Stimme, wie Lady Sarah sie bei ihr noch nicht gehört hatte. »Ich habe es Ihnen gesagt, Sarah, sie ist eine Person, die sich rächt. Sie ist immer unterwegs, glauben Sie mir. Auch wenn Sie das Gespenst nicht sehen.«
Die anderen Gäste nickten wie Marionetten, als sie die Erklärungen der Frau vernahmen.
Sarah Goldwyn lachte hart auf. »Okay, ich habe verstanden. Aber wie geht es weiter?«
»Wir halten uns an das Ritual.«
»An was bitte?«
Rosanna Brandi kam auf die Horror-Oma zu. »Nach jeder Leiche läuft das gleiche ab, Sarah, Sie werden es schon sehen.«
»Aber Signora, wir müssen die Polizei…«
Die Brandi lachte, als stünde sie auf der Bühne. Die halbe Tonleiter rauf und runter. »Meine liebe Signora Goldwyn, was denken Sie eigentlich von uns?«
»Das sage ich lieber nicht.«
»Sie sind ebenfalls Gast hier. Sie werden sich an das Ritual gewöhnen müssen.«
Sarah hob die Hand. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass eine Bekannte von mir gestorben ist. Die Dame aus Oxford. Hat sie sich auch dem Ritual hingeben müssen?«
»Nein, sie war eine Ausnahme. Wir haben für Ihre Überführung in die Heimat gesorgt.«
»Sehr gut.« Sarah deutete auf die Leiche. »Was ist mit diesem Mann? Muss er nicht auch überführt werden? Zumindest an seinen Heimatort.«
»Wir werden natürlich seine Angehörigen benachrichtigen, das steht außer Zweifel. Was dann geschieht, überlassen wir einzig und allein ihnen. Dafür sind wir nicht mehr zuständig.«
Mrs. Goldwyn schüttelte den Kopf. Sie kam nicht mehr mit. Was hier ablief, war mehr als dekadent, trotzdem nicht einmal überraschend. Es passte zu der gesamten Stimmung, die sich in den Mauern des Palazzos ausgebreitet hatte.
Auch Rosanna Brandi war ihr ein Rätsel. Die Frau reagierte ihr einfach zu sprunghaft. Einmal gab sie sich ihrer Furcht hin, dann wiederum zeigte sie eine ungewöhnliche Härte, wie zuletzt, als sie über das nun folgende Ritual sprach.
Vielleicht lag es auch an der Erleichterung, dass es sie nicht getroffen hatte.
»Nun, Signora Goldwyn?«
Sarah legte die Stirn in Falten und zeichnete mit der Zeigefingerspitze die rechte Augenbraue nach. »Ich muss mich noch immer daran gewöhnen, Sorry.«
»Si, hier ist einiges anders. Aber was wollen Sie machen? Wir alle sind Akteure auf der Bühne des Lebens. Gerade in einer derartigen Umgebung wie dieser fühlt man sich so.«
Die Horror-Oma schaute sich um. Die Gäste flüsterten wieder miteinander, manche prosteten sich zu, und immer wieder wurden dem Toten scheue Blicke zugeworfen.
»Wie lange dauern die unheimlichen Vorfälle noch?«
»Nur bis Mitte Mai.«
»Dann ist Schluss?«
»Si, das gesamte Jahr über, Signora. Stellen Sie sich das vor. Aber wenn der nächste Mai kommt, werden hier sicherlich ein Teil der Gäste sitzen, die Sie auch jetzt sehen. Die Spannung lässt sie nicht mehr los. Sie haben in ihrem relativ langen Leben alles gehabt, was bleibt ihnen da noch, um es interessant zu machen? Ich kann Ihnen sagen, dass ich ebenfalls so denke, Signora.«
»Ich allerdings nicht. Meine Hobbys füllen mich so aus, dass ich an so etwas nicht denke.«
»Da ist eben jeder verschieden.«
Aus einem der Seitengänge erklangen Schritte. Wie auf Kommando erhoben sich die Gäste von ihren Stühlen und blieben in steifen Haltungen davor stehen.
Einige von ihnen hatten sich auf ihre Stöcke gestützt. Keiner drehte sein Gesicht der Quelle dieser Schritte zu, denn jeder - außer Lady Sarah wusste Bescheid.
Die sah es Sekunden später, als die drei Personen den Gang verließen und in die Halle traten.
Es waren der Ober und die beiden Mädchen, die in der Halle die Gäste bedienten.
Nur wirkten sie jetzt anders. Zwar trugen sie noch ihre normale Dienstkleidung, hatten allerdings Kittel darüber gestreift und ihre Finger von Handschuhen bedeckt. Die neue, graue Kleidung ließ sie aussehen wie Friedhofswächter, und auch in ihren Gesichtern regte sich kein Muskel, als sie gemessenen Schrittes auf den Toten zugingen, ihn einrahmten und sich verbeugten.
Rosanna Brandi hatte von einem Ritual gesprochen. Lady Sarah musste ihr recht geben. Was hier ablief, das verdiente diesen Namen durchaus.
Auch die Gäste verneigten sich vor dem Toten. Lady Sarah machte mit, sie wollte nicht auffallen.
Dann beugte sich der Ober noch tiefer und hob die Leiche an. Die beiden Mädchen halfen ihm dabei. Und wieder konnte Sarah nur den Kopf schütteln, als sie sah,
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