0652 - Der Bogie-Mann
der Figur hatte sie nach wie vor im Gedächtnis und es ließ sich auch nicht entfernen.
Aus der Mikrowelle stammten die mit Käse und Schinken belegten Baguettes. Sie dufteten so intensiv, dass Jessica Appetit bekam. Um den großen runden Tisch saßen die drei Frauen. Marion trank einen Rotwein, Jessica blieb beim Weißen.
Es war gegen 22 Uhr, als Marion aufsprang und zum Fenster lief, weil sie Scheinwerfer gesehen hatte.
»Wer ist es?«
»Ich weiß es nicht, Esther.«
»Allmählich könnte Tippy zurückkommen.«
»Das meine ich auch.«
»Wer ist denn der Glückliche?«, fragte Jessica und biss kräftig in das knusprige Baguette.
»Er heißt John, John Sinclair…« Esther konnte nicht mehr weitersprechen, denn ihr Gast prustete plötzlich los und es blieben nicht alle Teile im Mund.
»He, was ist denn?«, meldete sich auch Marion.
»Sie hat sich verschluckt.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.«
Jessica Long saß noch auf ihrem Stuhl, den Körper vorgebeugt, und sie hustete, als hätte sie einen Anfall erlitten. Dann trank sie schnell einen Schluck Wein, richtete sich auf und atmete tief durch.
Ihr Kopf war rot angelaufen.
»Wieder okay?«, fragte Esther.
»Ja, ja«, keuchte sie. »Himmel, habe ich mich verschluckt.«
»Das lag bestimmt an diesen Krümeln.«
»Möglich.«
Esther räusperte sich. »Oder hast du dich verschluckt, weil ich einen bestimmten Namen gesagt habe?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil er auch aus London stammt.«
»Die Stadt ist groß.«
»Da hast du Recht.« Esther stand auf, weil es geklingelt hatte. »Entschuldigt mich.«
»Es ist Juri«, meldete Marion.
Beide Frauen verschwanden. Sie ließen Jessica zurück, die diese Zeit nutzte, um nachzudenken.
Der Name John Sinclair war gefallen. Das hatte sie so aufgeschreckt und für den Hustenanfall gesorgt. Okay, es gab in London sicherlich nicht nur einen John Sinclair, aber sie wollte einfach nicht glauben, dass es nicht der John Sinclair war, mit dem sie zweimal Fälle erlebt hatte, die in den Bereich des Dämonischen und den des Schreckens fielen. Beide Male hatte John eingreifen müssen, einmal im Horror-Restaurant an der Themse, zum anderen bei ihr persönlich, als über ihre. »Kinder« der tödliche Puppenzauber gekommen war.
Jessica mochte John, er mochte auch sie. Und sie hatten miteinander geschlafen. Jessica dachte gern an die Stunden zurück und sie erinnerte sich auch an John Sinclairs Versprechen, anzurufen, aber das war nicht geschehen.
Sie war trotzdem nicht allzu böse auf ihn, denn Jessica wusste sehr genau, welch einem Job dieser Mann nachging. Das war Stress bis zu den Haarspitzen.
Wenn John mit Tippy Drake weggegangen war, dann bestimmt nicht, um sie im Freien zu verführen oder um hier Urlaub zu machen. Jessica rechnete damit, dass hinter seinem Erscheinen hier ein sehr handfester Fall steckte.
Da fiel ihr der Bogie-Mann ein.
Diese alte böse Legende, die Geschichte von des Teufels Geistern, die Menschen töteten. Auf einmal konnte sie nicht mehr daran glauben, dass es sich ausschließlich um ein Märchen handelte, was diesen geheimnisvollen Mörder anging.
Sie hatte im Atelier etwas gespürt. Es war über sie hinweggestreift wie der Hauch aus einer fernen, fremden Welt und sie hatte sehr deutlich die Furcht gespürt.
War der Bogie-Mann echt? Hielt sich John Sinclair deswegen hier auf? Gern hätte sie die Schwestern gefragt, nur traute sie sich nicht. Zudem wollte sie nicht zugeben, dass sie John kannte. Wenn eben möglich, wollte sie ihm auch als Fremden begegnen, wenn er mit Tippy zurückkehrte.
Sie hörte Stimmen von der Tür her und vergaß den Geisterjäger zunächst. Esther und Marion betraten mit dem Tänzer Juri das Zimmer.
Juri war ein hoch gewachsener Mann mit dunklen, krausen, aber in die Höhe gekämmten Haaren.
Unter der breiten Stirn wuchs die Nase gerade hervor. Sie zeigte irgendwie die gleiche Härte wie der Mund mit den schmalen Lippen. Die Augen schimmerten dunkel. Auch in ihnen leuchtete ein stählern wirkender Glanz, der sicherlich auf Frauen seine Faszination nicht verfehlte, aber Jessica nicht eben sympathisch war. Sie konnte diesem Juri, der mit kraftvollen und dennoch locker wirkenden Bewegungen den Raum betrat, nichts abgewinnen.
»Das ist unser lieber Gast Jessica«, stellte Esther sie vor.
Juri reichte ihr die Hand. Er trug eine enge Hose, ja, schon dunkle Leggins. Dafür reichte seine braune Jacke bis zur Hüfte und war geschnitten wie eine Glocke. Diese Art des
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