0652 - Der Bogie-Mann
»Das muss ich einfach. Wie andere Künstler auch gibt es bei mir ebenfalls so genannte Phasen.«
»Wie macht sich das bemerkbar?«
»Nun, manchmal fühle ich mich mehr der afrikanischen Mystik zugeneigt, wie hier.« Sie hob einen Gegenstand an, der einen dunkelhäutigen Medizinmann zeigte. In seiner Hand hielt er eine Schachtel mit Antibabypillen. »Ich will damit das Dilemma zeigen, in dem dieser gewaltige Kontinent steckt.«
Jessica lächelte. »Das ist enorm.«
»Man tut, was man kann.«
Der Gast betrachtete auch die Arbeiten aus den asiatischen Phasen. Ihr fielen besonders stark die Südsee-Motive auf, da sie mehr vorhanden waren als die Übrigen.
»Hat das was zu bedeuten?«
»Im Prinzip schon. Ich habe die Südsee als kleines Kind bereits gemocht und von ihr geschwärmt.«
»Warst du schon dort?«
»Nein, du?«
»Ich leider auch nicht.« Jessica ging weiter und erreichte das Ende der Ausstellungsreihe, wo ihr sofort ein Gegenstand auffiel, der nicht zu den anderen passen wollte.
Es war ein schwarzes Etwas, das Jessica überhaupt nicht zusagte, was auch Marion Drake auffiel, denn sie fragte: »Hast du was, Jessica?«
Sie deutete mit dem Finger auf die schwarze Figur. Ich will ehrlich sein, Marion, ich mag sie nicht.
»Sie - sie bereitet mir ein körperliches Unbehagen.«
»Wie das?«
»Kann ich nicht erklären.«
Esther war mitgekommen. Sie stand hinter Jessica und sprach gegen deren rechte Schulter. »Weißt du eigentlich, wen diese Figur darstellt? Kennst du dich aus?«
»Nicht direkt…«
»Es ist der Bogie-Mann«, flüsterte Esther mit einer geheimnisvoll klingenden Stimme.
Jessica fuhr herum. »Der Bogie-Mann?«
»Richtig.«
Sie schluckte. »Dass es so etwas noch gibt«, flüsterte sie. »Man hat früher den Kindern von ihm erzählt, um die Kleinen in Furcht zu versetzen. Ich habe das schon immer als schrecklich empfunden.«
»Es änderte nichts daran«, sagte Marion, »dass es ihn gibt.« Sie hob die Figur an und drehte sie zu Jessica hin, damit sie einen Blick auf die Vorderseite werfen konnte, wo ein Augenpaar so rot glühte wie zwei Karfunkelsteine. »Fass ihn an, du kannst ihn streicheln…«
Jessica Long schüttelte den Kopf. »Nein, das möchte ich nicht. Bitte nicht.«
»Warum?«, fragte Marion lachend.
»Es ist komisch, aber er macht mir Angst, versteht ihr? Ich merke, dass etwas von ihm ausgeht. So als würde er leben.«
»Das kannst du nicht sagen. Nimm ihn…«
Sie wollte noch immer nicht. »Ein Leben, das versteckt ist. Tief in ihm. Vielleicht wie ein böser Geist. Ihr werdet mich auslachen, aber so denke ich…«
Marion Drake lachte. Dabei schoss ihre Hand plötzlich vor und der Bogie-Mann berührte plötzlich Jessicas Wange. Die Frau stand unbeweglich. Sie hatte das Gefühl, von einem Pelz gestreift zu werden. Ekel schoss in ihr hoch, auf der Haut bildete sich ein Schauer, der auch nicht verschwand, als Marion die steinerne Figur wieder wegstellte.
Esther griff ein. »Ich möchte mich für meine Schwester entschuldigen. Aber sie reagiert immer etwas überempfindlich, wenn es um ihren Bogie-Mann geht.«
»Schon gut«, sagte Jessica. »Es war ja meine Schuld.« Sie fühlte dort nach, wo sie berührt worden war. Brannte die Haut? Hatte sich dort eine gewisse Wärme entwickelt?
Nein, das bildete sie sich möglicherweise nur ein. Außerdem wollte sie sich vor den beiden Frauen keine Blöße geben.
»Möchtest du noch etwas sehen?«, fragte Esther.
Jessica nahm ihr Weinglas an sich, das sie abgestellt hatte, und trank einen Schluck. »Nein, wohl nicht. Ich habe mich allerdings entschlossen, ein Bild zu kaufen und auch etwas von dir, Marion.«
»Danke, das finde ich toll. Ich freue mich immer, wenn Menschen meine Arbeiten kaufen, die es zu schätzen wissen, was ich leiste. Wegen der Bilder musst du mit Tippy reden.«
»Sind denn alle verkäuflich?«
»Ich denke schon. Oder - Esther?«
»Ja, Tippy wird sie verkaufen. Sie hat nur ein Lieblingsbild, an dem sie besonders hängt.«
»Wo ist es?«
»In ihrem Zimmer.«
Jessica lachte. »Was zeigt es für ein Motiv? Blumen, eine weite Landschaft…?«
»Nein«, erwiderte Esther, »den Bogie-Mann.«
Jessica schwieg. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg, und sie ärgerte sich auch über das leise Lachen der beiden Frauen.
»Komm«, sagte Marion Drake. »Wir gehen in unseren Wohnraum und trinken noch ein Glas.«
Dort fühlte sich Jessica wohler. Der Druck war verschwunden, aber das Bild
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