0653 - Alfreds kleiner Horror-Laden
Zeit einzuordnen war, besonders was die Kleidung der Person anging. Vor zweihundert Jahren hatte man Ähnliches getragen. Das Fantasie-Gewand mit dem tiefen Dekolletee war mehr als attraktiv. Auf dem Kopf trug die Frau eine Haube.
Gesicht, Hals und Brust wirkten wie Alabaster. Das Gesicht war eine Maske, bewegte sich nicht.
Die Augen waren halb geschlossen, der Mund ein wenig geöffnet. Es machte der Person nichts aus, dass sie von zahlreichen Insekten umschwärmt wurde. Sie nahm es hin, ohne sich zu bewegen.
Bill ging davon aus, dass sie ihn entdeckt hatte, aber sie tat nichts, um dies auch zu zeigen. Sie blieb gelassen, die Hände waren vor ihrem Schoß zusammengelegt, wo der weit schwingende Rock begann, der bis zu den Knöcheln reichte.
Eine sehr ungewöhnliche Person…
Bill fragte sich, zu wem sie gehörte. Er wollte aber keine Fragen stellen, noch nicht…
Sehr vorsichtig ging er auf sie zu. Er behielt so viel wie möglich von der unmittelbaren Umgebung im Auge, weil er damit rechnete, dass die Person als Lockvogel diente.
Dicht vor ihr blieb er stehen. »Hallo«, sagte er und hoffte auf eine Erwiderung.
Bill sah sich getäuscht. Die Unbekannte behielt ihr puppenhaftes Gehabe bei.
»Ich heiße Bill.«
Noch immer gab sie keine Antwort. Der Reporter ging mittlerweile davon aus, dass sie zu diesem Alfred gehörte, der ja ein seltsamer Kauz sein musste. Sie konnte seine Tochter, Frau oder Freundin sein.
»Hast du mich nicht verstanden, schöne Fremde? Oder willst du mich nicht verstehen?« Bill musste selbst über seine Worte lächeln, weil er sie so gestelzt gesprochen hatte.
Endlich schlug sie die Augen auf. Bill schaute in ihre Pupillen. Sie kamen ihm ungewöhnlich vor.
Automatisch fragte er sich, ob überhaupt Leben in ihnen steckte.
»Nun…«
»Olympia, ich heiße Olympia.«
»Na bitte«, sagte der Reporter, »du kannst ja doch sprechen. Ist das nicht wunderbar?«
»Ja, ich spreche.«
»Klasse, Mädchen. Jetzt möchte ich nur noch wissen, wo du herkommst. Hast du etwas mit Alfred zu tun?«
»Ich kenne ihn.«
»Das habe ich mir gedacht. In welch einem Verhältnis stehst du zu ihm, schöne Unbekannte?«
»Ich bin bei ihm.«
»Das kann ich mir denken.« Bill entspannte die Lage durch sein Lachen. »Bist du seine Tochter, seine Frau…«
»Keine Tochter, keine Frau. Er ist mein Herr. Ich bin ihm überlassen worden.«
»Wie schön für dich. Oder auch nicht. Dann bist du seine Sklavin, nehme ich an. Aber das gibt es bei uns nicht mehr. Wir mögen keine Menschen, die in Sklaverei leben.«
»Er hat mich bekommen.«
»Schön. Von wem?«
»Ich bin Olympia. Ich bin einen weiten Weg gegangen. Einen sehr weiten Weg über all die Jahre. Er hat mich wieder zurückgenommen und mich Alfred gegeben.«
»Wie war das?«
Sie ging auf die Frage nicht ein. »Viele Männer haben sich in mich verliebt, die meisten sind verzweifelt. Sie kamen nicht mehr mit mir zurecht. Ich weiß das.«
»Okay, Olympia, du bist schön. Ich kann verstehen, dass man sich in dich verliebt, aber ich möchte gern von dir wissen, wem du tatsächlich gehörst? Ist das so schlimm?«
»Dem Bösen.«
Bills Augenbrauen zuckten in die Höhe. So kam er der Sache schon näher. »Was meinst du damit?«
»Er hat mich geschaffen«, sagte sie und stieß sich von dem Baum ab. Bill trat zur Seite, damit sie nicht gegen ihn fiel, obwohl es ihm nicht unangenehm gewesen wäre, doch er hatte nicht vergessen, dass er sich trotz allem in einer gefährlichen Lage befand.
Es machte ihr nicht einmal etwas aus, dass sie mit der Stirn gegen einen der tief hängenden Zweige stieß. Auf der glatten Haut blieb nicht ein Kratzer zurück.
Bill schaute gegen ihren Rücken, wo sich der Ausschnitt kaum fortsetzte. Da war das Kleid sogar ziemlich hoch geschlossen. Weglaufen lassen wollte er die Frau nicht.
Das hatte Olympia auch nicht vor. Nach wenigen kleinen Schritten blieb sie stehen, drückte den Kopf zurück und hob zugleich beide Arme an. Das geschah mit sehr langsamen Bewegungen. Bill glaubte, dass sie ihr schwer fielen.
Er hatte sich schon beim ersten Anblick darüber gewundert, dass sie einen sehr ausgefallenen Ohrschmuck trug. Er schimmerte golden, bestand aus Kreisen und Rechtecken. Weshalb sie den Schmuck mit beiden Händen umfasste, erfuhr der Reporter Sekunden später, als sie damit anfing, an ihm in entgegengesetzte Richtungen zu drehen.
Bill schloss für einen Moment die Augen, als er das Knacken hörte. Es war ein Geräusch, das durch
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