0660 - Die Totenstadt
halb verweste Leiche. Darüber wird sie sich wundern.«
»Ja, das glaube ich auch.« Sicherlich plagte ihn die Neugierde, aber er stellte keine weiteren Fragen, sondern führte uns auf seinen Wagen zu, einen Honda Accord.
Ich setzte mich neben ihn, Suko nahm im Fond Platz. Natürlich war es auch in Kyoto hektisch, doch den Vergleich zu Tokio konnte man keinesfalls ziehen.
Wir sahen den tiefer liegenden, ehrwürdigen Fluss Kamo unter den zahlreichen Brücken träge dahinfließen und über allem thronte der Heilige Berg Hiei. Er bot einen prächtigen Anblick von mannigfaltiger Schönheit, dem auch wir uns als Europäer nicht entziehen konnten, trotz der Dunkelheit der Nacht.
Wir hatten die Stadtautobahn genommen. Mir fiel ein besonders schönes Gebäude auf. Eine Pagode dicht an der Autobahn, die aus fünf Stockwerken bestand.
Auf meine Frage bekam ich auch die Antwort. »Es ist der Toji-Tempel und ein Ruhepol in der Hektik dieser Stadt, die immerhin eineinhalb Millionen Einwohner zählt.«
Davon merkten wir kaum etwas. Trotz des Verkehrs wirkte sie im Vergleich zu Tokio klein wie eine Oase.
»Das Hotelzimmer ist reserviert?«, fragte ich.
»Ja. Ich hoffe, Sie werden damit zufrieden sein, denn ich habe Sie in einer Ryokanherberge untergebracht. Es sind die alten traditionellen Gasthäuser dieser Gegend. Wenn Sie den nötigen Respekt zeigen, wird es Ihnen an nichts mangeln.«
»Da bin ich gespannt.«
Sehr bald schon bogen wir in eine der zahlreichen Nebenstraßen ab, in dem auch unser Hotel lag.
Als Fremder hätte ich es nie gefunden, dieses kleine braune Gebäude mit den beiden Trakten, die durch einen Innenhof miteinander verbunden waren. Man vermietete nur acht Zimmer, wie uns Simane erklärte.
Vom Eingang her konnten wir bis auf den Innenhof blicken. Ein kleines Gärtchen mit einem Wasserbecken, einer Steinlaterne und winzigen Beeten, die ein schmaler Gartenpfad durchschnitt. Niemand kam uns entgegen, als wir die enge Vorhalle betraten, wo ein großer Fächer aufgeblättert stand.
Unser Fahrer rief in den Raum zwei Worte hinein. »Gomen kudasai!«
Kaum war der Ruf verhallt, als wir leise Schritte vernahmen. Eine Frau im Kimono erschien und hieß uns mit einer herzlichen Stimme in unserer Muttersprache willkommen.
»Es ist Nesan oder die ältere Schwester«, klärte uns Simane auf.
Die Frau stellte unser Gepäck zur Seite, bevor sie auf unsere Schuhe deutete. Mir fiel wieder ein, dass wir uns ja in Japan befanden. Wir zogen die Schuhe aus, bekamen dafür eine Art von Pantoffeln, unsere Schuhe verschwanden im Schrank, dann führte uns die Frau auf unser Zimmer. Dazu stiegen wir eine schmale Treppe hoch, die allerdings nur sechs Stufen hatte.
Ein Lacktischchen, vier Sitzkissen, zwei Futonbetten und ein goldfarben bemalter Kleiderständer in Form eines Tores gaben das japanische Flair wider, das auch nicht von dem auf dem Boden stehenden Telefon gestört wurde oder dem Fernseher in der Ecke.
Die Nasszelle war diskret verborgen. Sie lag dort, wo das Licht so allmählich ausklang.
Die Fenster waren mit Papier bespannt. Sie glänzten hell, weil sie vom Licht der Außenlaternen erfüllt wurden. Auch eine Wasserkaraffe und Gläser standen bereit und die ältere Schwester zog sich lächelnd zurück, um uns allein zu lassen.
Simane deutete auf die Sitzkissen. »Nesan wird uns gleich Tee bringen. Ich glaube, wir haben noch einiges zu besprechen.«
»Ja«, sagte ich und nahm Platz, »das denke ich auch.«
In den nächsten Minuten schwiegen wir und ließen die Atmosphäre des Hotels auf uns einwirken.
Es war seltsam, aber mich überkam eine ungewöhnliche Ruhe. Von der Hektik der Stadt war hier nichts zu spüren. In einem solchen Hotel hatte ich noch nicht gewohnt.
Der Tee wurde serviert. Nesan ließ es sich nicht nehmen, unsere Koffer auszupacken und die Kleidungsstücke sorgfältig aufzuhängen. Ich schämte mich, weil ich sie vor meiner Abreise kurzerhand in den Koffer geworfen hatte.
Ebenso lautlos, wie die Frau gekommen war, verschwand sie wieder. Clayton Simane hatte den Tee inzwischen eingeschenkt. Wir tranken erst, dann redeten wir.
»Ich bin über die Probleme informiert«, gab Simane offen zu, »und ich muss Ihnen sagen, dass auch ich über diese furchtbare Altlast, die sich hier in der Nähe der Stadt befindet, entsetzt bin. Dass es einmal so weit kommen würde, damit habe ich nicht gerechnet.«
»Stimmt es denn, was man sich so unter der Hand erzählt?«, fragte Suko.
Simane nickte. »Ja,
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