0662 - Sturm auf den Todestempel
sie werden kommen, weil sie Bescheid wissen.«
»Keine Leistung ohne Gegenleistung.« Ich war bereit, das Fass zu öffnen. »Wenn wir etwas für dich tun sollen, dann musst du auch etwas für uns tun.«
Er wusste nicht, was ich meinte, trat einen Schritt näher und schaute mich aus seinen großen und glasig wirkenden Augen fragend an. »Was kann ich für euch tun? Ich weiß, dass ihr meinetwegen erschienen seid, doch ich habe den Eindruck, als wäre einiges nicht so gelaufen, wie ihr es euch vorgestellt habt.«
»Das stimmt. Uns kamen die Tamilen in die Quere, die das Schiff kaperten. Aber ich möchte dir etwas zeigen, und zwar den Gegenstand, der uns zu dir geführt hat.«
»Gib ihn…«
Ich griff in die Tasche, beobachtet von Suko, und hatte plötzlich das Gefühl, die Zeit würde stehen bleiben oder sich zumindest stark verlangsamen.
Auf meinem Rücken spürte ich die Kälte. Meine Finger zitterten, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Und das Zittern blieb auch dann, als ich aus der Tasche das zwischen den beiden Acrylhälften eingeklemmte Palmblatt hervorholte.
»Das ist der Grund!«, erklärte ich und trat näher an Cheng Wu heran, damit er genau sehen konnte, was ich meinte.
Er hob eine Hand. Ich verstand das Zeichen und blieb stehen. Sein knochiger Kopf war ein wenig zur Seite gedreht, damit er genau erkennen konnte, was ich festhielt.
»Du siehst es?«
Er nickte nur. Sehr leise gab er die Antwort. »Ja, ich kann es erkennen. Es ist ein sehr wertvolles Teil und es hätte eigentlich nicht in deine Hände gelangen dürfen. Ich begreife nicht, wie du so etwas hast holen können. Es ist mir ein Rätsel…«
»Weißt du denn, was es genau ist?«
»Ein Stück niedergeschriebenes Schicksal aus der Palmblatt-Bibliothek. Nur derjenige, den es persönlich angeht, darf es dort lesen und sich sagen lassen, wie sein weiteres Schicksal verlaufen wird. Was du getan hast, ist ein Frevel.«
»Nein, das ist es nicht!«, hielt ich ihm entgegen. »Es ist kein Frevel, es waren die Umstände, die dazu führten.«
»Wirst du sie mir sagen?«
»Ja, obwohl die Zeit drängt. Wenn ich dir berichtet habe, wie das Palmblatt in meine Hände gelangte, kannst du dich immer noch entscheiden, ob wir für oder gegen dich sind.«
Cheng Wu überlegte eine Weile. Ich atmete auf, als er nickte. »Ja, das ist ein guter Vorschlag.«
Ich fing an zu berichten. Erzählte von Siras Totenzauber, von unserem Besuch in einer Bibliothek, die von den Weisen und Gelehrten verlassen worden war.
Cheng Wu hörte mir sehr genau zu. Eine Regung, wie er sich eventuell entscheiden würde, zeigte er dabei nicht. Ich hoffte nur, dass ich ihn davon überzeugen konnte, auf welcher Seite wir letztendlich standen, und dass wir keine Feinde für ihn waren.
Ich hatte schnell gesprochen, nur knapp Luft geholt und war ziemlich außer Atem, als ich sagte:
»So, jetzt weißt du alles. Du kennst unser Geheimnis, entscheide dich.«
Er hob seinen Arm. Mit den Fingern strich er über sein Gesicht. Es sah so aus, als wollte er sich dabei die dünne Haut von den Knochen schaben. »Siehst du dich selbst als einen Gerechten an?«
»So weit will ich nicht gehen, aber wir haben uns geschworen, die Welt des Bösen und der dämonischen Kräfte zu bekämpfen. Das tun wir seit Jahren.«
»Ich glaube euch, aber es wird nicht einfach sein.«
Ich stellte die alles entscheidende Frage: »Kannst du denn die Zeichen lesen, sie entziffern?«
»Ja!«, sagte er.
Ich schloss die Augen und ließ die Antwort in meinem Gehör nachhallen. Er hatte sich nicht dagegen gestemmt. Er wusste Bescheid. Er würde es lesen können. Es eröffneten sich plötzlich neue Perspektiven. Wieder dachte ich an eine Rettung…
»John!«, sprach Suko mich an. »Was ist mit dir los?«
Erst jetzt merkte ich, dass er mich festgehalten hatte, denn ich schwankte leicht.
Rasch öffnete ich die Augen, wischte die Schatten weg und schüttelte den Kopf. »Es hat mich umgehauen, Suko. Ich - ich kann es nicht glauben. Es ist verrückt.«
»Ich weiß.«
»Schraubt eure Hoffnungen nicht zu hoch«, erklärte Cheng Wu. »Der Feind ist unterwegs. Er weiß, dass ich zurückgekehrt bin, deshalb will er mich vernichten. Die Göttin Kali hat es sich zum Ziel gesetzt, diesen Tempel zu erobern. Dazu darf ich nicht mehr existieren. Sie hat mich nicht finden können, ich war geflohen, ich habe in einem fremden Land gelegen, doch ich hielt es nicht aus. Ich wollte wieder zurück in den Tempel, der mir gebaut
Weitere Kostenlose Bücher