0662 - Sturm auf den Todestempel
damit auch das Licht. Es strömte uns entgegen. Es war ein geheimnisvolles Schimmern, beinahe körperlich spürbar. Es fehlte nur noch die Sphärenmusik, um die Illusion einer fremden Welt perfekt zu machen.
In meinem Hals lag ein dicker Kloß. Ich hatte auch Mühe, die Beine normal zu bewegen. In den Knien merkte ich den Druck nach jedem Schritt. Immer wenn ich einen Fuß aufsetzte, steigerte er sich.
Der Tempelboden selbst bestand aus dunklen Steinen. Die Gräber waren in einem geometrischen Muster angeordnet, sodass sich zwischen ihnen schmale Wege befanden.
Nicht eine Zeichnung war in die Wände geritzt worden. Trotz des aus ihnen strömenden Lichts wirkte sie kalt, leer und abweisend.
»Ich frage mich, wie man sich hier wohl fühlen kann«, murmelte Suko.
»Fühlst du dich denn…?«
»Nein, nicht ich, sondern Cheng Wu.«
»Der wird sich zurückhalten.«
»Tempel sind Grabkammern, John. Ich kann mir vorstellen, dass wir uns im Grab des schlafenden Gottes befinden. Hierher muss man ihn und seine Freunde verbannt haben.«
»Wenn das stimmt, könnten wir versuchen, ebenfalls den Tod zu überwinden.«
»Richtig.«
Noch vier Stufen lagen vor uns. Wir gingen auch sie und blieben inmitten des Friedhofs stehen.
Von Shao sahen wir ebenfalls nichts und auf den Grabplatten zeigte sich auch keine Beschriftung.
Suko atmete schwer aus, als er auf die ihm am nächsten liegende Grabplatte zuging. Sie war schräg angelegt worden und stand mit dem Kopfende höher als mit dem unteren.
Ich blieb zurück und schaute auf Sukos Rücken, als sich mein Freund bückte. Mit den Knöcheln klopfte er auf die Platte und hörte das hohl klingende Geräusch ebenso wie ich.
Ohne sich aufzurichten, drehte er den Kopf. »Das ist kein Stein, John, das ist Holz.«
»Kannst du sie anheben?«
»Ich werde es versuchen.«
Er fasste zu, als ich auf ihn zuging. Das leise Kratzen hörte ich ebenfalls, noch ein Ruck und Suko bekam die hölzerne Grabplatte tatsächlich in die Höhe.
Er schaute in die rechteckige Öffnung, auch ich blickte hinein - und musste schlucken.
Nur eine Armlänge tief lag eine schreckliche Gestalt. Zur Hälfte nur verwest, mit einem Gesicht, das teilweise noch mit Haut bedeckt war. Ein widerlicher Geruch strömte uns entgegen, der uns fast die Mägen umdrehte.
Suko ließ die Holzplatte rasch wieder fallen. Ein dumpfes Geräusch erklang, dann war es wieder still.
Er richtete sich auf, wischte die Hände an seinen Hosenbeinen ab und schaute mich an.
»Sorry, ich weiß nichts«, flüsterte ich und deutete auf den rechts von ihm befindlichen Grabstein.
»Nehmen wir uns den Nächsten vor.«
Wir arbeiteten Hand in Hand. Keine Grabplatte blieb dabei verschont. Der Reihe nach öffneten wir die unheimlichen Ruhestätten und verschlossen sie wieder.
Es war immer das gleiche Bild.
Halbverweste Leichen, die irgendwie gleich aussahen, dabei nie einer wie der andere.
»Wenn er hier ist, hat er sein Ziel erreicht«, sagte ich. »Dann ist Cheng Wu bei seinen Helfern.«
»Bei den toten.«
»Sicher.«
»Ich frage mich nur«, sagte Suko, »ob sie nicht irgendwann ihre Gräber verlassen.« Er wies auf die letzten beiden Platten, die noch vor uns lagen. »Los, heb sie an!«
Wir taten es gemeinsam.
Ich hatte wieder mit einer verwesten Leiche gerechnet, doch das war ein Irrtum.
In diesem Grab lag Hiob, der Tamile, auf dem Rücken. Aus großen, leeren Augen glotzte er mich an.
Als Suko rechts neben mir einen erstaunten Ruf ausstieß, wusste ich, wen er entdeckt hatte.
Shao!
***
Ich brauchte ihn nicht erst zu fragen. Zudem konnte ich seine Antwort von den Lippen ablesen. Er hatte die hölzerne Grabplatte zur Seite gelegt, sah mich an, zitterte und schluckte zugleich.
Die Chinesin und Letzte in der langen Ahnenkette der Sonnengöttin Amaterasu lag unbeweglich in der Grube und rührte nicht einmal einen Finger. Sie sah aus wie tot, wir hörten sie in der Stille auch nicht atmen und konnten uns nur fragen, was mit ihr geschehen war und wer dies getan hatte.
Ich sah Sukos Wangen zucken, als er mit tonloser Stimme sagte: »Sie hätte bei uns bleiben sollen. Warum haben wir sie nicht zurückgehalten? Jetzt ist sie…«
»Sag nicht tot, Suko, sag es nicht!«
Wütend drehte er sich um. »Warum soll ich das nicht sagen, zum Henker! Es ist doch so.«
»Weißt du das genau? Hast du nicht gesagt, dass…«
»Hör auf, John, bitte.« Er deutete auf das Grab. »Du wirst mich nicht daran hindern können, sie aus diesem
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