0663 - Das Unheil erwacht
denn es hüpfte Stufe für Stufe die Treppe hoch.
Alma war ahnungslos. Während ihre Tochter im Keller zurückgeblieben war, hatte sie die Treppe hinter sich gelassen. Die Unsicherheit war nach der letzten Stufe verflogen. Sie fühlte sich in ihrem Bereich sicherer, brauchte nicht mehr zu tasten und erlebte soeben noch das Finale der ersten Plattenseite mit.
Dann verstummte Beethoven.
Alma betrat genau in diesem Augenblick die Küche. Den Wohnraum mit den alten Möbeln hatte sie links liegenlassen. Dort war nicht geheizt. Er wurde von den Frauen nur am Wochenende benutzt.
Zielsicher ging sie zu ihrem Stammstuhl und ließ sich darauf niedersinken.
Sie drehte ihn ein wenig, denn sie wollte in Richtung Tür sitzen, um sofort mitzukriegen, wenn sich dort etwas tat.
Durch die dunklen Brillengläser war von ihren Augen nichts zu sehen.
Die Hände hatte sie auf die Tischplatte gelegt, das Gesicht glich einer kalten Maske.
Alma Prentiss wusste genau, dass sie verloren hatten. Und zwar im doppelten Sinne.
Einmal war es ihre Tochter, die nicht mehr zu ihr hielt. Zum zweiten war sie davon überzeugt, dass dieses im Haus steckende Grauen keine Überlebenden zulassen würde. Es war radikal, es war auf das reine Vernichten programmiert, denn nicht alle Menschen standen ihm nahe.
Wer normal darüber nachdachte, der konnte es nur ablehnen, was ihre Tochter leider nicht getan hatte.
Für sie war das Schreckliche gerade rechtzeitig gekommen. Jade kam ihr vor, als hätte sie nur darauf gewartet, um ihr Leben endlich ändern zu können.
Das war schlimm, denn es hing mit dem Tod, dem Grauen und der Vernichtung zusammen.
Alma fragte sich völlig emotionslos, auf was sie wartete, und sie wusste auch die Antwort.
Sie wartete auf den Tod, das Ende…
Sie hatte das Böse nicht sehen können, sie wusste nicht, wie es aussah, ob es überhaupt eine Gestalt besaß oder nur so etwas wie ein Schatten war. Sie hatte deutlich die tödliche Ausstrahlung gespürt, die davon abstrahlte.
Alma Prentiss wartete. Zuerst hatte sie versucht zu beten. Sie gehörte zu den Menschen; die es jeden Abend vor dem Einschlafen taten, doch in dieser Lage wollten ihr keine Worte über die Lippen kommen. Sämtliche Gebete hatte sie vergessen.
Sie aber war nicht vergessen worden, denn das Unheil befand sich auf dem Weg.
Als sehr sensible Person mit geschärften Sinnen nahm sie deutlich die Strömung wahr, die sich verdichtet hatte. Sie wollte nicht daran glauben, dass sich das Fremde bereits in ihrer unmittelbaren Nähe befand, aber sie konnte dem Unheil auch nicht entwischen.
Lautlos näherte es sich nicht. Da die Musik verstummt war, nahm sie die normalen Geräusche doppelt so laut war. Viele kannte sie, nicht aber das leise Schleifen auf dem Fußboden noch außerhalb der Küche.
Jedenfalls waren es keine Schritte, denn die hörten sich anders an. Da schob sich etwas über den Boden, das zudem auf keinen Widerstand traf und den direkten Weg zur Küche hin nahm.
Alma Prentiss bewegte sich nicht. Die Unruhe wühlte ihr Innerstes auf.
Da klopfte ihr Herz schneller als gewöhnlich, da merkte sie den fast tödlichen Druck.
Sie holte nur sehr flach, aber dafür schnell Luft. Jetzt wünschte sie sich, etwas sehen zu können, das war ihr leider nicht möglich. Ihre Welt befand sich abgeschlossen und eingekerkert in der absoluten Dunkelheit.
Es rutschte weiter.
Leise, gefährlich leise, auch unheimlich und einer bestimmten Spur folgend.
Dem Forstbeamten hatte irgendjemand das Blut geraubt. Damals war das Grauen noch im Freien gewesen, heute nicht mehr. Nun glitt es immer weiter auf Alma zu, die daran dachte in einem stockfinsteren Raum zu hocken, so groß ungefähr wie eine Zelle, deren Wände sich allerdings durch eine von außen gesteuerte Kraft immer mehr zusammenzogen, so dass sie die darin sitzende Person irgendwann einmal zerquetschten.
Ja, so würde es sein. So und nicht anders.
Für einen flüchtigen Moment dachte sie an Jade. Nein, es hatte keinen Sinn. Die Tochter würde der Mutter nicht helfen, sie stand bereits zu stark unter dem Einfluss des Fremden.
Es war da!
Nicht direkt bei ihr, nur spürte Alma sehr genau, dass es die Schwelle zur Küche überschritten hatte. Jetzt waren es nur mehr wenige Schritte bis zum Ziel.
Sie war gefasst, sie saß bewegungslos. Die Frau wusste, dass jeder irgendwann einmal das Ende seines Lebens erreicht hatte. Sie stand dicht davor!
Nur hätte sie nicht damit gerechnet, dass es so schnell kommen
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