067 - Das Maedchen in der Pestgrube
mir aber nicht allzu viele Gedanken. Vielleicht erübrigte sich mein Ausflug in die Pestgrube. Ich konnte mir ohnedies kaum vorstellen, was ich unter diesen Knochen Interessantes finden sollte.
„Was nun?“ fragte Helnwein.
„Jetzt sehen wir uns das Haus 80 am Stephansplatz an“, sagte ich.
Es entpuppte sich als zweistöckiger kleiner Bau, der erst vor kurzer Zeit renoviert worden war. Wir traten ein. Es roch muffig. Ein gewölbeartiger Gang lief auf eine Treppe zu. Ich suchte nach einem Verzeichnis der Mieter, fand aber keines.
Auf einer Tür stand: Hauswart.
Kurz entschlossen klopfte ich mit der Faust gegen die Tür. Alles blieb ruhig. Ich klopfte nochmals, diesmal stärker.
„Scheint nicht zu Hause zu sein“, sagte ich und wandte mich ab.
In diesem Augenblick kam ein alter Mann die Stufen herunter. Er war klein, sein Haar grau und stark gelichtet, das längliche Gesicht voller Falten. Er ging gebückt und blinzelte uns kurzsichtig an. „Suchen Sie mich?“ fragte er.
Seine Stimme klang wie das Quaken eines Frosches.
„Sind Sie der Hauswart?“ fragte Helnwein.
„Ja“, sagte das Männchen und schlurfte näher. „Womit kann ich dienen?“
Er blieb vor uns stehen und reichte mir kaum bis an die Brust.
„Hier wohnen doch die Schwestern Reichnitz?“ fragte ich.
Helnwein und ich wechselten einen raschen Blick.
„Elisabeth und Maria Reichnitz?“ fragte ich.
„Ja, die wohnen hier“, sagte der Hauswart. „Sie sind aber vor ein paar Monaten abgereist.“
„Ich weiß“, sagte ich ungeduldig. „Ich bin ein Neffe. Ich habe seit Monaten nichts von ihnen gehört und mache mir Sorgen ihretwegen. Wäre es möglich, daß ich einen Blick in ihre Wohnung werfe?“ „Das ist nicht möglich“, plusterte sich das Männchen auf. „Das ist völlig ausgeschlossen.“
Ich griff in die Rocktasche, holte einen Hundertschillingschein hervor und hielt ihn dem Alten hin. Er starrte den Geldschein an, dann schüttelte er den Kopf.
„Bedaure“, sagte er standhaft. „Ich kann Sie nicht in die Wohnung lassen, auch wenn ich es wollte.“ Er machte eine Kunstpause. „Ich habe keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung.“ Er blinzelte mich an. „Und außerdem könnte es mich auch die Stellung kosten.“
„Weshalb?“
„Das Haus gehört immerhin den Schwestern Reichnitz.“
Das war ja interessant. Das hatte ich nicht gewußt.
„Aber so verstehen Sie doch!“ drängte ich weiter. „Ich bin extra aus London gekommen, um nach meinen Tanten zu sehen. Vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen. Vielleicht kamen sie überraschend zurück, liegen tot in der Wohnung.“
Der Alte straffte sich.
„Bedaure“, wiederholte er. „Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Wenden Sie sich an die Hausverwaltung!“
Er holte einen Schlüssel hervor, sperrte die Tür auf und quakte: „Guten Tag.“
Ich nickte ihm zu.
„Gehen wir“, sagte ich zu Helnwein.
Wir traten auf den Platz hinaus. Es war noch nicht einmal elf Uhr.
„Was sagen Sie nun, Helnwein?“ fragte ich. „Die Schwestern Reichnitz existieren also tatsächlich. Ich werde dem Haus später einen Besuch abstatten. Der Alte sieht mir ganz so aus, als würde er sich nach dem Mittagessen hinlegen, und da habe ich Gelegenheit, in die Wohnung der Schwestern einzudringen.“
Helnwein führte mich in ein Restaurant in der Rauhensteingasse. Es hieß‚ Zum Weißen Rauchfangkehrer’, war mehr als hundert Jahre alt und gemütlich eingerichtet. Wir hatten Mühe, einen Platz zu bekommen.
Ich studierte aufmerksam die Speisekarte, auf der mehr als hundert Gerichte standen. Helnwein bemerkte meinen hilflosen Blick. Es gab hauptsächlich Wiener Spezialitäten. Ich wählte schließlich eine Leberknödelsuppe und Wiener Rostbraten und bestellte ein Bier dazu. Die Suppe schmeckte ausgezeichnet.
„Weshalb heißt dieses Restaurant‚ Zum Weißen Rauchfangkehrer’?“ erkundigte ich mich.
Helnwein schmunzelte. „Das kann ich Ihnen sagen. Vor mehr als hundert Jahren trafen sich die Rauchfangkehrer täglich hier. Einer der schwarzen Gesellen soll eines Abends einen über den Durst getrunken haben. Er torkelte in den Keller des Nachbarhauses, in dem eine Bäckerei untergebracht war, plumpste in einen Mehltrog und schlief dort seinen Rausch aus. Am nächsten Morgen kam er gerade noch zum Frühschoppen zurecht. Der Rauchfangkehrer, der eher wie ein Müller aussah, zechte lustig weiter und kümmerte sich nicht um das höhnische Gelächter seiner Kollegen. Seit damals heißt
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