067 - Der Redner
sein«, wandte sich der Redner an Mr. Wynne, den stellvertretenden Direktor. »Lassen Sie mir doch eine Liste Ihrer Kunden zusammenstellen, die in den letzten zwölf Monaten gestorben sind -«
Er hörte einen unterdrückten Ausruf hinter sich und drehte sich schnell um.
Miss Lyne war geräuschlos eingetreten und starrte ihn verwundert an. Dann sagte sie etwas, das ihr der Redner nicht verzeihen konnte.
»Wie klug von Ihnen!«
Er sah sie noch sprachlos an und wußte nicht, was er auf diese vorlaute Äußerung erwidern sollte, als ein Angestellter hereinkam.
»Mrs. Luben-Kellner wünscht Sie zu sprechen«, wandte er sich an Mr. Wynne.
Der Name war dem Redner bekannt. Mrs. Luben-Kellner besaß einen Rennstall und hatte einen ganz bestimmten Ruf in der Sportwelt. Ihre Pferde hatten jedoch nur wenig Erfolg, und man hielt ihren Rennstall für einen der schlechtesten in England, obwohl sie große Summen für die Tiere ausgegeben hatte. Nach allgemeiner Ansicht rührten die Mißerfolge davon her, daß sie die Pferde selbst trainierte. Sie war der einzige weibliche Trainer Englands und sehr stolz auf diese Tatsache.
Der Bankmann sah den Chefinspektor zweifelnd an.
»Ich müßte die Dame eigentlich empfangen.«
»Soll ich herausgehen?«
»Nein, das Gespräch ist wohl kaum privat. Wenn Sie nichts dagegen haben, bitte ich sie hier herein.«
Der Redner schüttelte den Kopf. Er hatte niemals etwas dagegen, mit Leuten zusammenzukommen.
Die Dame trat ein, und Mr. Rater war nicht wenig erstaunt, als er dieselbe Frau erkannte, die er vor kurzer Zeit in Joe Purdews Büro getroffen hatte. Das Erkennen war gegenseitig. Sie warf dem Redner einen schnellen Blick zu, und als sie sprach, klang ihre Stimme ein wenig heiser.
»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber - wo ist denn Mr. Baide?«
»Er fühlt sich nicht wohl«, entgegnete sein Stellvertreter.
»Aber ich kann ebenso alles erledigen, was Sie wünschen.«
Sie sah wieder zu dem Redner hinüber und zögerte.
»Ich möchte die Sache aber mit Ihnen allein und nicht in Gegenwart von Fremden besprechen«, erwiderte sie etwas anmaßend. Ihre Stimme klang hart und gewöhnlich, und in ihrer Erregung zeigte sie, daß ihre Bildung und ihre guten Manieren nur angelernt waren.
Es blieb dem Chefinspektor nichts anderes übrig, als das Büro zu verlassen. Seltsamerweise mußte er bei ihrem Anblick aufs neue an eine zerbrochene Glasscheibe denken.
Nach einer Weile kam Mr. Wynne heraus, ging in Mr. Baides Büro und kehrte dann wieder zu der Dame zurück. Mr. Rater wartete, bis sie gegangen war.
»Wer ist denn das?« fragte er dann.
Mr. Wynne zuckte die Schultern. Er wußte nur, daß sie ein großes Einkommen besaß. Mehr konnte oder wollte er nicht über sie sagen, und Bankiers sind im allgemeinen - besonders Detektiven gegenüber - sehr zurückhaltend mit ihren Angaben über Kunden.
»Sie kam nicht, um etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen, sondern um ein Notizbuch zu holen, das sie gestern in Mr. Baides Büro liegenließ.«
Der Redner hatte die Wartezeit dazu benützt, sich etwas eingehender mit der Sekretärin zu beschäftigen. Neue Tatsachen hatte er dabei allerdings nicht ans Licht bringen können. Nachdem er sich von Mr. Wynne verabschiedet hatte, trat er noch einmal bei ihr ein. Sie saß an ihrem Schreibmaschinentisch und hörte ihn nicht, da er die Tür geräuschlos öffnete. Als er sie anredete, schrak sie zusammen und schloß schnell das kleine Notizbuch, in dem sie gelesen hatte. Ihre Bewegung war so hastig, daß er Argwohn schöpfte.
»Was wollten Sie denn eigentlich vorhin mit Ihrer Bemerkung ›Wie klug von Ihnen!‹ sagen?«
Sie wandte sich in ihrem Drehstuhl um und sah ihm offen ins Gesicht. Zu seinem größten Unbehagen glaubte er wieder ein spöttisches Lächeln in ihren Zügen zu bemerken.
»Ich hatte eben die Überzeugung, daß Sie sehr scharfsinnig und geschickt handelten. Sie sind doch Mr. Rater?«
Er nickte.
»Jemand hat mir einmal erzählt, daß Sie sehr schweigsam wären, aber hier bei uns haben Sie eigentlich ziemlich viel geredet.«
Mr. Rater wurde plötzlich rot und war ärgerlich auf sich und auf sie.
»Bisher haben zwei Leute versucht, mich hinters Licht zu führen, und nur einer von ihnen ist dem Galgen entkommen!«
Sie lächelte freundlich.
»Dann gehe ich wahrscheinlich schlechten Zeiten entgegen! Es tut mir leid, Mr. Rater. Ich habe eben nur im Scherz gesprochen. Aber es war wirklich ein sehr kluger Gedanke von Ihnen. Sie
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