067 - Der Redner
Papierkorb. »Jetzt hat er wahrscheinlich seinen ganzen Vorrat an Beredsamkeit für die nächsten zwei Jahre verbraucht, und wir bringen kein Wort mehr aus ihm heraus.«
Aber unter all den vielen Leuten hatte der Chefinspektor doch einen aufmerksamen Zuhörer. Die Gesellschaft hatte die blonde Stenotypistin Lydia Grayne angestellt, die sehr schön und auch sehr fleißig war. Sie hatte bereits sieben verschiedene Einladungen zum Abendessen abgeschlagen, die sie von sieben Mitgliedern des Vorstands erhalten hatte. Und dieser Vorstand setzte sich aus sieben älteren, wohlwollenden Herren zusammen.
Lydia Grayne trat schüchtern an den Redner heran, als er gerade das Gebäude verlassen wollte.
»Ach, verzeihen Sie, dürfte ich Sie vielleicht um Ihr Autogramm bitten, Mr. Rater?«
Er lächelte sie freundlich an, nahm das Buch, das sie ihm hinhielt, und schrieb seinen Namen hinein, ohne ein Wort zu sagen.
Sie erzählte ihm dann, daß sie aus Kanada stammte und erst seit drei Monaten in England war. Später erfuhr er, daß sie ihre Stellung aufgegeben hatte, aber erst einige Zeit nachher hörte er, welche neue Beschäftigung sie gefunden hatte.
Scotland Yard hatte damals gerade einen Gast: Captain Martin J. Snell aus Philadelphia in den Vereinigten Staaten. Im allgemeinen konnte der Chefinspektor gesprächige Leute nicht leiden, aber aus einem ganz bestimmten Grund ertrug er nicht nur die Gesellschaft dieses Amerikaners, sondern ermunterte ihn auch noch direkt zum Reden. Zur Erklärung muß gesagt werden, daß der Redner zu jener Zeit an Schlaflosigkeit litt.
Captain Snell war nach Europa gekommen, um hier kriminalistische Studien zu treiben, und einen Monat hatte er für Scotland Yard angesetzt. Man hatte ihm bereits alles gezeigt, was es zu sehen gab, vom Kriminalmuseum bis zum Fundbüro. Den Abend verbrachte er gewöhnlich in Mr. Raters Wohnung und erzählte ihm merkwürdige Abenteuer.
»In Memphis hatten wir einen ganz verflixten Spitzbuben. Der Kerl hieß Lew Oberack und war der gerissenste Betrüger, dem ich jemals begegnet bin ...«
Kaum hatte der Amerikaner zu sprechen begonnen, so nickte der Redner auch schon sanft ein, denn Captain Snells Stimme klang monoton, beruhigend und einschläfernd. Hätte aber Mr. Rater dem klugen Mann zugehört, so hätte er manche wertvolle Mitteilung erfahren und hätte vor allem auch die Vorgänge im Hause eines gewissen Dimitri Horopolos von Anfang an richtig verstanden.
Mr. Horopolos war ein sehr reicher Grieche, der nicht nur eine große Handelsfirma besaß, sondern auch Bank- und Finanzgeschäfte betrieb. Fast an allen internationalen Transaktionen war er beteiligt.
Er sah sehr gut aus, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, dunkle Augen und einen schwarzen Schnurrbart. Außerdem bildete er sich sehr viel auf seine Körperkräfte ein, denn er war ein trainierter Sportsmann und Athlet, auf seine Reitkunst und auf sein schönes Haus am Elman Square. Besonders eitel war er auf die Wirkung, die seine Persönlichkeit auf Frauen ausübte.
Einmal erhielt Chefinspektor Rater eine direkte Beschwerde über ihn und suchte ihn infolgedessen auf. Der Grieche empfing ihn mit einem verbindlichen Lächeln.
»Aber mein lieber Freund, das ist doch ganz absurd! Das Mädchen hat sich mir an den Hals geworfen. Ich habe alles getan, um sie zur Vernunft zu bringen, und als sie durchaus nicht hören wollte, habe ich ihr eben gekündigt. Ein Mann in meiner Stellung ist solchen Anklagen immer ausgesetzt.«
»Um eine Anklage handelt es sich ja gar nicht.«
Später ging der Redner zu der jungen Dame, aber er hatte keinen Erfolg, da sie die Öffentlichkeit fürchtete. Nach einer Weile erfuhr er, daß die Nachfolgerin ihre Stelle ebenfalls schleunigst verlassen hatte. Auch dieses Mädchen konnte er nicht veranlassen, ihm den wahren Grund zu erzählen.
Kurz darauf traf Mr. Horopolos den Redner zufällig in der Bond Street.
»Ich habe meine Sekretärin schon wieder verloren. Ich weiß wirklich nicht, was ich anstellen soll, damit die Damen mit mir zufrieden sind.«
Mr. Rater kaute an seiner Zigarre und sah den Griechen böse an.
»Haben Sie einmal versucht, alles zu unterlassen, was ihnen mißfallen könnte, und sich anständig zu benehmen?«
Dimitri faßte das als einen Witz auf und lachte. Er war an diesem Morgen sehr zufrieden mit sich und der Welt, denn endlich hatte er eine Perle von einer Sekretärin gefunden. Es war eine blonde junge Dame mit großen, blauen Augen, die sein Angebot angenommen
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