0671 - Der vergessene Gott
hatte ihr auf erschreckende Weise die eigene Hilflosigkeit verdeutlicht. Nicole wußte, daß sie jederzeit erneut angegriffen werden konnte. Um das zu verhindern, gab es nur eine Möglichkeit: Sie mußte aus der Zelle entkommen.
Nicole warf einen Blick auf die beiden Wachposten, die in den Gang zurückgewichen waren und sie mißtrauisch anstarrten. Die Situation schien sie zu überfordern.
Nicole ging vorsichtig auf das Gitter zu. »Hört zu«, sagte sie ruhig, »ich weiß nicht, was hier gerade passiert ist, und ich glaube, ihr wißt es auch nicht. Also, warum geht nicht einer von euch zu eurem Boss und erzählt ihm, was sich eben abgespielt hat? Dann bringen wir vielleicht ein wenig Licht in die Sache.«
Wenn es ihr gelang, die beiden Wachposten voneinander zu trennen, hatte sie schon halb gewonnen.
Die Krokodile tauschten einige leise Worte aus, die Nicole nicht verstehen konnte. Schließlich nickte einer der beiden.
»Sie hat recht, Larku sollte informiert werden. Ich gehe zu ihm und berichte ihm die ganze Angelegenheit. Mal sehen, was er sagt.«
Er drehte sich um, aber sein Kamerad faßte ihn am Arm.
»Meinst du, es ist sicher, wenn ich mit ihr allein zurück bleibe?« fragte er leise.
Der andere zuckte die Schultern. »Warum sollte es das nicht sein?«
Das Krokodil senkte den Blick und zögerte einen Moment. »Du weißt schon, diese ganzen Geschichten, daß sie die Auserwählte ist…«
Das zweite Krokodil entzog sich seinem Griff. »Du wirst doch wohl nicht im Ernst den abergläubischen Blödsinn ernst nehmen, den die Menschen glauben?«
Er lachte kopfschüttelnd und verschwand ohne ein weiteres Wort aus Nicoles Blickfeld.
Sein Kamerad blieb etwas beschämt zurück. Es war ihm offensichtlich nicht recht, daß Nicole die Auseinandersetzung mitgehört hatte.
Die Dämonenjägerin beschloß, das auszunutzen. Sie wußte zwar nicht, weshalb der Wachposten sie für auserwählt hielt, aber das war ihr in diesem Moment auch egal.
»Du hast doch wohl keine Angst vor mir, oder?«
»Sei ruhig!« entgegnete der Wachposten ärgerlich.
»Das war kein nein. Also hast du doch Angst.«
»Natürlich nicht! Ich habe vor niemandem Angst.«
Nicole spürte, wie er wütend wurde. Sie war sich sicher, daß sie ihn bald soweit haben würde, die Zellentür aufzuschließen.
»Was für ein großer Krieger«, entgegnete sie ironisch, »der Waffen und ein Gitter braucht, damit er keine Angst vor einer unbewaffneten Frau haben muß. Wirklich beeindruckend.«
Der Wächter hob knurrend den Speer. »Noch ein Wort…«, sagte er drohend.
Nicole lächelte. »Eins…«
Mit einem wütenden Schrei riß das Krokodil den langen Holzspeer hoch und stieß ihn durch das Gitter.
Nicole entging der scharfen Metallspitze durch einen schnellen Sprung. Der Wächter reagierte genauso, wie sie gehofft hatte. Wenn sie ihm jetzt noch den Speer abnehmen konnte…
Im gleichen Moment hörte sie schwere Schritte im Gang.
Hastig riß der Wächter den Speer zurück und trat vom Gitter zurück. Anscheinend wollte er bei seinem Kampf gegen eine unbewaffnete Gefangene nicht beobachtet werden.
Nicole fluchte leise. Eine solche Chance würde sie so schnell nicht wiederbekommen.
Die Schritte kamen näher.
»Ach, du bist es, Rekoc«, sagte der Wächter mißmutig, als er den Affen im Halbdunkel des Gangs erkannte, »was willst du denn schon wieder?«
»Ich will nur fragen, ob ihr Hunger habt«, entgegnete Rekoc auf seine langsame Art und trat in Nicoles Blickfeld. »Im Wald habe ich nämlich heute einige Lumbus gefangen. Du hast doch schon mal Lumbus gegessen, oder? Das Fleisch ist ganz zart, selbst wenn man es nur kurz…«
Das Krokodil ließ ihn nicht ausreden. »Halt’s Maul und verschwinde, Affenhirn. Ich hab' keinen Hunger, und ob die Gefangene was essen will, interessiert mich nicht.«
Rekoc ließ die Schultern hängen und senkte den Blick. »Na gut, aber das ist nicht nett von dir.«
Er ging mit schleppenden Schritten an dem Wächter vorbei, der ihn ignorierte und statt dessen Nicole haßerfüllt anstarrte.
Für einen Moment konnte Nicole das schmale Krokodil hinter Rekocs breitem Körper nicht sehen. Sie hörte nur ein lautes Knacken, dann drehte sich das Affenwesen zu ihr. In seiner rechten Pranke hielt er die Leiche des Wächters, dessen Kopf haltlos hin- und herrollte. Rekoc hatte ihm das Genick gebrochen.
Nicole schluckte. Der Affe hatte sich bei ihrem letzten Besuch nicht gewalttätig gezeigt, obwohl er ständig mit einer großen
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