0679 - Der Blutbrunnen
Brunnen erwähnt. Gibt es ihn noch?«
»Ja, den gibt es!« flüsterte sie. »Nur nicht mehr so wie früher, wenn Sie verstehen.«
»Wie dann?«
»Er ist anders, er ist angenagt vom Zahn der Zeit. Dieser Brunnen ist auch nicht mehr von einem Pavillon bedeckt und beschützt. Er steht jetzt im Freien.«
»Wo genau?«
»Ich werde Sie hinführen. An dieser Stelle war früher einmal ein Park, der Ort liegt nicht weit von meinem Haus entfernt. Ich wohne ja da, wo auch Mademoiselle de Carnais gelebt hat. Nach dem Kampf ist Hector de Valois als Verletzter zu ihr zurückgekehrt, und sie hat ihn gepflegt.«
»Waren Sie inzwischen am Brunnen?«
»Ja und nein.«
»Bitte…?«
»Aus der Ferne, John. Ich konnte ihn mir nur aus der Ferne anschauen. Das ist es doch gewesen. Es war einfach grauenhaft. Ich spürte die Angst wie Messerstiche, die in meinen Körper drangen. Ich traute mich nicht näher an ihn heran. Können Sie das verstehen?«
»Natürlich.«
Veronique stand auf, und Suko war ihr dabei behilflich. Ich ging nach draußen, wo die Kälte schwer wie Blei drückte. Noch immer ließ sich kein Mensch auf der Straße sehen. Die Bewohner mußten sich in der Kirche befinden.
Das Läuten der Glocken war verstummt. Es hätte auch nicht gepaßt, höchstens ein Gruß der Totenglocke.
Ich drehte mich um, als die anderen beiden kamen. »Fahren wir zum Brunnen?«
Suko war anderer Meinung. »Veronique meint, daß wir erst bei Anbruch der Dunkelheit hingehen sollten.«
»Weshalb?«
Die Antwort gab sie mir selbst. »Sie können mich für überängstlich oder für einen Dummkopf halten, aber ich bin der Meinung, daß sich Leroque hier irgendwo im Ort aufhält. Es… es geht gar nicht anders. Er muß einfach hier sein.«
»Weshalb?«
»Wegen der Opfer!« flüsterte sie. »Er braucht Nachschub für den Blutbrunnen, und diesen kann er sich nur hier aus den Bewohnern aussuchen. Ist euch das klar?«
»Das sehen wir ein«, murmelte Suko.
»Dann gebt verdammt noch mal acht. Haltet die Augen offen! Der Schreiner ist erst heute umgebracht worden und nicht vor Tagen wie die anderen Männer und Frauen.«
Ich atmete die eisige Luft ein und drehte den weichen Schal fester um meinen Hals. »Also gut, Veronique. Wo sollen wir anfangen zu suchen?«
»Ich möchte in die Kirche.«
»Und dann?«
»Es ist nur ein Gefühl John, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß dieser Teufelsbote alles versucht.«
»Was heißt das?«
»Daß er auch das Gotteshaus von Coray unter seine Kontrolle bringen will. Oder ist das zu weit hergeholt?«
»Bestimmt nicht. Sie kennen ihn besser.«
»Nein, ich kenne ihn überhaupt nicht.«
»Lassen Sie uns gehen.«
»Ja, bitte, nur nicht fahren. So können Sie einen Eindruck gewinnen. Hier lauert das Böse, es drückt, es ist dabei, sich in die Herzen der Menschen zu fressen.«
»Sie denken dabei an die Bewohner?«
»Ja, John, daran denke ich besonders. Ich lebe nicht direkt im Ort, mein Haus befindet sich in unmittelbarer Nähe. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß diese brutale Tat die Menschen sprachlos gemacht hat. Sie… sie haben sich in der Kirche versammelt. Es ist der einzige Ort, wo sie eine gewisse Sicherheit haben.«
Ich runzelte die Stirn, was die Frau bemerkte und sie deshalb fragte: »Glauben Sie mir nicht?«
»Wir werden sehen.«
Gemeinsam gingen wir den Weg zurück. Als wir auf die normale Hauptstraße einbogen, kläffte ein Hund. Sein Bellen klang in der starren Luft sehr laut und scharf.
Die Kirche war nicht zu übersehen. Sie besaß keinen sehr spitzen Turm. Ich würde ihn eher mit dem Wort klotzig umschreiben. Das Kreuz aus Eisen hatte durch das Eis einen anderen Farbton bekommen und gab einen graublauen Schimmer ab.
Sämtliche Scheiben der an den Straßenrändern stehenden Fahrzeuge waren zugefroren. Auch die Karosserien hatte eine zweite Schicht bekommen. Ich roch den aus den Kaminen steigenden Rauch, der wie dünne Fahnen unsere Nasen erreichte.
Dann blieb ich stehen, weil Veronique darum bat. Wir waren nicht mehr weit von der Kirche entfernt. Zwar stand die Eingangstür nicht offen, wir hätten trotzdem etwas hören müssen. Weder Gesang noch Stimmen drangen nach draußen, es herrschte eine beklemmende Stille, die ich als nicht natürlich empfand.
Veronique Blanchard dachte ebenso. »Ich bin davon überzeugt, daß dort etwas nicht stimmt.«
»Es ist zu still, nicht?«
»Ja.«
»Und was glauben Sie?« fragte Suko.
Ihr rechter Fuß schabte über einen Eisbuckel. »Ich
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