0679 - Der Blutbrunnen
oder tief aus der Erde gestiegen zu sein. Veronique dachte an den Bericht des Inspektors. Auch er hatte in der Kirche den Schatten gesehen. Das war Leroques Vorbote!
Zum Brunnen mitfahren oder im Haus bleiben? Sie hatte sich für das Haus entschieden, und das war genau das Falsche gewesen.
Jetzt war sie allein und hilflos.
Hilflos war genau der richtige Ausdruck. Etwas anderes fiel ihr nicht dazu ein, denn es war niemand in der Nähe, der sie hätte unterstützen können.
Allein mit dem Schatten – allein mit Leroque. Schlimmer konnte es nicht kommen. Was sollte sie tun?
Aufstehen und weglaufen? Hinein in die Kälte und den Weg zum Brunnen einschlagen?
Es war ihre einzige Chance.
Sie schaute an sich herab. Für dieses Wetter war sie mit ihrem Hosenrock und dem Pullover viel zu dünn angezogen. Sie mußte noch den Mantel holen.
Hoffentlich ließ man ihre die Zeit…
Obwohl Veronique es eilig hatte, stemmte sie sich sehr gemächlich aus dem Sessel. Sie bewegte dabei ihren Kopf, schaute immer wieder gegen die Wände und die Decke, ohne den Schatten allerdings ein zweites Mal zu sehen. War er verschwunden?
Sie unterdrückte die Hoffnung und lief in einen schmalen Flur hinein, wo sich auch die Garderobe befand.
Auch dort brannte Licht, und es lauerte ihr keiner auf. Plötzlich reagierte sie hektisch und riß den Aufhänger mit ab, als sie den Mantel von der Garderobe nahm.
Sie warf ihn über die Schulter. Bei dieser Bewegung hörte sie das Klingeln der Schlüssel in der rechten Manteltasche. Das Geräusch gab ihr irgendwie Vertrauen.
Mit langen und schnellen Schritten wollte sie durch die Halle hetzen, um die Tür zu erreichen, aber wie vor eine Wand gerannt, blieb sie stehen.
Rechts von ihr hatte sich etwas verändert. Es war eine Tür, die offenstand.
Die Tür zum Zimmer ihres verstorbenen Mannes!
***
Veronique Blanchard konnte sich nicht mehr bewegen. Der Schreck und der Schock hatten sie gelähmt. Gleichzeitig überkam sie der Eindruck, vor dem Tor zum Jenseits zu stehen, aus dem sich bald eine knöcherne, bleiche Klaue strecken würde, um sie in diese unheimliche Totenwelt hineinzuziehen.
Es war schlimm…
Die junge Frau wußte nicht, was sie tun sollte. Sie stand einfach da und schaute gegen die Tür. Zur Hälfte stand sie offen, aber sie bewegte sich jetzt weiter, weil sie von innen den nötigen Druck bekommen hatte. Schon immer hatte die Tür gequietscht. Es hatte Veronique auch nichts ausgemacht, sie wußte dann stets, daß Romain sein Zimmer verlassen wollte. Jetzt aber flößte ihr dieses Quietschen eine schlimme Angst ein, die wie ein Messer durch ihr Herz schnitt.
Die Halle war erleuchtet, das Zimmer ihres verstorbenen Mannes lag im Dunkeln.
Sie hatte die Tür nicht aufgeschlossen. Trotzdem war sie offen, wobei der Schlüssel noch von außen steckte.
Das schaffte nur eine Gestalt wie Leroque…
Das Licht aus der Halle drang mit seinem Schein über die Türschwelle hinweg, verlor sich aber bald in der schattigen Dunkelheit.
Zudem drang aus dem Raum ein Geruch hervor, den sie nicht mochte. Es roch nach Staub und altem Holz.
Als die Tür beinahe bis zum Anschlag aufgestoßen war, kam sie zur Ruhe. Die Stille zerrte an ihren Nerven, sie atmete heftig und war mittlerweile zu einem Entschluß gekommen.
Sie wollte doch weg. Wenn sie schnell genug lief, konnte sie es vielleicht schaffen.
Dazu kam es nicht mehr.
Eine knarrende, unheimlich klingende Stimme drang aus dem Zimmer. »Ich grüße dich, Veronique. Warum bist du nicht auf dem Weg zum Brunnen? Alle anderen aus dem Dorf gehen hin, aber du halst dich versteckt. Das will ich nicht, denn du bist sehr wichtig für mich. Du hast Vergangenheit, du sollst die erste sein…«
»Nein!« ächzte sie. »Nein, das will ich nicht. Wer bist du, zum Teufel? Wer…?«
»Frag nicht so. Du hast von mir gehört. Die Menschen haben mich gerufen. Ich bin es. Ich bin Leroque, und ich bin damals nicht vernichtet worden, wie es dieser de Valois gern gehabt hätte. Ich werde auch den nächsten Kampf überleben, denn ich habe mir vorgenommen, den Blutbrunnen wieder sprudeln zu lassen.«
Veronique hatte den Sprecher noch immer nicht zu Gesicht bekommen, nur seine dumpfe Grabesstimme gehört. Sie erfüllte die Halle wie ein Echo aus der Totenwelt.
Konnte ein Schatten reden?
Bestimmt nicht. Vielleicht war er auch kein Schatten mehr. Niemand hatte ihn gesehen. In den alten Überlieferungen stand auch keine genaue Beschreibung zu lesen. Die Menschen mußten
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