0679 - Der Blutbrunnen
in Bewegungen gerieten. Sie veränderten sich und rannen als »dickes« Wasser am Gestein nach unten. Dabei bildeten sie hin und wieder fratzenhafte Figuren, die zu der Umgebung paßten.
Die Menschen schwiegen. Ein jeder wußte, worauf es ankam. Sie hatten seinen bösen Geist gespürt, sie hatten seinen Schatten gesehen und waren sicher, daß er in den nächsten Minuten erscheinen würde.
Bis auf die Kinder fehlte niemand.
Aber es gab eine Ausnahme.
Veronique Blanchard, die zwar nicht direkt im Ort wohnte, die aber zu ihnen gehörte.
Um sie wollte sich Leroque persönlich kümmern. Ein jeder wartete darauf, daß ihr Blut den Anfang machte…
***
Wir hatten uns ziemlich weit zurückgezogen und den BMW an einer günstigen Stelle versteckt. Er stand jetzt in einer kleinen Mulde. Als Sichtschutz dienten die gefrorenen Zweige des am Muldenrand wachsenden Buschwerks.
Es war noch kälter geworden. Das lag auch am Wind, der aus Westen kam und aufgefrischt war. Er brachte diese verdammte Kälte mit, die uns fast die Ohren abbiß.
Manchmal hörten wir ihn auch. Mehr ein leises, geheimnisvolles Jaulen, das uns umwehte. Der Wind schien aus zahlreichen Händen zu bestehen, die den Schnee als kleine Pulverwolken hochstäubten und gegen unsere Gesichter bliesen.
Wir kletterten aus der Mulde und hinterließen in diesem noch weichen Schnee tiefe Fußabdrücke.
Die Gegend besaß wenig Deckungsmöglichkeiten. Leicht geduckt bewegten wir uns über die weiße Pracht hinweg, die einen Vorteil besaß.
Der Schnee konnte als eine Lichtquelle angesehen werden. Er gab der gesamten Umgebung einen bläulichen Schein, in den sich auch noch eine graue und helle Farbe hineinmischten.
Wenn Buschwerk hochwuchs, dann warf es gleichzeitig Schatten auf die Schneedecke.
Dieses ungewöhnliche Verhältnis aus Hell und Dunkel gab uns die Chance einer guten Sicht.
So entdeckten wir die Schlange der Menschen, noch bevor wir sie hörten.
Wir gruben uns zwar nicht in den Schnee ein, blieben aber geduckt, weil wir nicht unbedingt gesehen werden wollten. Wir wußten ja, wohin die Menschen wollten, es gab nur ein Ziel.
In etwa fünfzig Metern Entfernung zogen sie an uns vorbei.
Schweigend, mit gesenkten Köpfen. Es brannte auch kein Licht. Weder Fackeln noch Taschenlampen erhellten die Nacht.
»Die kennen sich aus!« flüsterte Suko.
»Wer sonst wohl?«
»Stimmt.«
Erst als uns die letzten passiert hatten, krochen wir aus unserer Deckung hoch.
»Okay, dann wollen wir mal.«
Mein Freund ging voran. Es war nicht weit bis zum Brunnen. Wir erkannten, daß die Bewohner aus Coray einen Kreis bildeten und sich ungewöhnlich hektisch bewegten, als sie mit bestimmten Bewegungen ihre Arme nach unten rammten.
Es dauerte nicht lange, bis wir entdeckten, was sie getan hatten.
Fackeln erhellten den Kreis, der in der Finsternis wie eine schaurige Insel wirkte.
»Ein Ritual«, flüsterte Suko. »Ich habe es mir gedacht. Eine andere Frage, John. Hast du Leroque gesehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Dann kommt er noch.«
»Vorsicht, Alter. Denk daran, daß du ihn nicht kennst. Er kann sich zwischen den anderen verborgen haben.«
»Daran glaube ich nicht. Dann würden sie schon längst zur Sache gekommen sein. Die sehen mir ganz so aus, als warteten sie auf ihren komischen Oberguru.«
Ich rieb meine Hände. Trotz der Handschuhe drang die Kälte durch bis auf die Haut.
»Packen wir’s?«
»Und ob.«
Suko war ebenso heiß darauf wie ich, diesem verfluchten Teufelsboten die Rechnung präsentieren zu können. Die Zeit des Schreckens sollte nicht wieder beginnen.
Wir blieben zusammen. Sollte sich etwas tun, konnten wir uns noch immer trennen.
Wachen hatten sie keine aufgestellt. Wenn wir vorsichtig genug waren, kamen wir sehr dicht an die Rücken der Menschen heran und konnten durch die Lücken zum Brunnen hinschauen, der noch stark vereist war und in tiefem Schweigen lag.
Lautlos konnten wir uns leider nicht bewegen. Immer wieder rieselte der Schnee unter den Sohlen, oder er knirschte pappig zusammen.
Die Geräusche trugen ziemlich weit, aber wir waren noch nicht gehört worden.
Keiner drehte sich um. Die Männer und Frauen starrten auf den starr daliegenden Brunnen.
Suko stieß mich an. Wir stoppten beide. Er winkte, ich brachte mein Ohr dicht an seine Lippen. Zusammen hockten wir im Schnee, als ich sein Flüstern hörte.
»Wie wäre es, wenn wir uns auf den Brunnen stellen.«
»Und dann?«
Er hatte gehört, daß ich nicht begeistert war.
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