0680 - Der verratene Traum
Nicole automatisch das Zitat. Sie hatte den letzten Worten Rai-Doukans kaum noch zugehört. Ihre Aufmerksamkeit galt einem der Maskierten, der ihren Dhyarra-Kristall aus der Tasche genommen hatte und ihn abwesend in der Hand drehte. Hinter ihm schraubten zwei Männer einige Drähte an einem altertümlich aussehenden Kasten fest.
»Deshalb«, sagte Rai-Doukan jetzt zu Watling, »kann ich dich leider nicht mitnehmen, denn wir werden nicht fliehen. Im Gegenteil, wir werden die Blumen vernichten, um uns vor weiteren unangemeldeten Besuchern zu schützen.«
Die Bedeutung des Kastens erschloss sich Nicole plötzlich. Damit sollte eine Sprengladung ferngesteuert werden - und sie konnte sich denken, wo die sich befand.
»Warte«, warf sie ein. »Wenn du die Blumen wirklich zerstören willst, dann lass uns wenigstens vorher zurückgehen. Wir gehören ebenso wenig hierhin, wie du in unsere Welt.«
Sie warf Watling einen scharfen Blick zu, aber der Engländer widersprach nicht. Er stand einfach nur mit gesenktem Kopf da und schien darauf zu warten, welche Entscheidungen andere für ihn trafen.
Rai-Doukan räusperte sich. »Du hast recht«, gestand er, »aber trotzdem kann ich euch nicht gehen lassen. Weißt du, ich benötige einfach Leute, die mir erklären können, wie so etwas funktioniert.«
Er schnippte mit den Fingern. Einer seiner Leute hob daraufhin Nicoles Blaster hoch. Um zu verhindern, dass er die für ihn fremde Waffe versehentlich auslöste, hatte er sie am Lauf gepackt.
Der Anblick des Blasters reichte, um Nicoles Optimismus zurückzubringen. Sie hatte befürchtet, die Waffe sei bei der Explosion des Kellereingangs verschüttet worden, aber anscheinend hatte einer der Maskierten sie vorher gefunden.
Sie lächelte Rai-Doukan freundlich an. »Aber natürlich kann ich dir erklären, wie die Waffe funktioniert«, sagte sie.
Und trat zu!
***
Australien 1794
»Ich weiß nicht, ob wir das wirklich tun sollten«, flüsterte Ian Murphy nervös. Er ging geduckt neben David Buchanan her und sah sich immer wieder nach allen Seiten um. Nach dem grauenvollen Anblick, den er durch die Bretter des Stalls gehabt hatte, war er direkt zu dem Schmied gerannt, um ihm die Geschichte zu erzählen. Aber Buchanan hatte sich nicht sonderlich beeindruckt gezeigt, denn Murphy war bekannt für seine wilden Berichte von angeblichen Seeungeheuern und eigenen Heldentaten. Dass er jetzt glaubte, Grose sei das Monster, das Watling angegriffen hatte, zeugte wohl eher von einem zu hohen Rumkonsum. Deshalb hatte sich der Schmied auch nur mühsam überreden lassen, sich selbst vom Wahrheitsgehalt der Geschichte zu überzeugen.
Jetzt schien Murphy jedoch kalte Füße zu bekommen. Sie waren nur noch wenige Meter vom Stall entfernt, aber der ehemalige Seemann wurde immer langsamer. Buchanan wusste nicht, ob Murphy Angst vor dem Ungeheuer oder vor dem Eingeständnis einer Lüge hatte.
»Was hast du überhaupt so früh am Stall gemacht?«, fragte der Schmied leise.
Murphy hob die Schultern. »Nichts besonderes… ich wollte nur mein Morgengeschäft in aller Ruhe verrichten, das ist alles.«
Wohl kaum, dachte Buchanan, ging aber nicht näher auf die Antwort des Seemanns ein. Murphy war kein besonders hygienischer Mensch, und es war unwahrscheinlich, dass er den langen Weg von den Baracken bis zum Stall zurückgelegt hatte, nur um seinen Darm zu entleeren. Normalerweise tat er das direkt vor der Tür. Wesentlich wahrscheinlicher war es, dass er auf dem Weg zu den Sträflingsgärten gewesen war, die kurz hinter dem Stall lagen. Zwar galt es unter den Gefangenen als extrem verwerflich, Gemüse aus den Gärten zu stehlen, aber Buchanan wusste, dass gerade die, die am lautesten über mangelnde Solidarität schimpften, am häufigsten mit Tomaten und Kürbissen unter dem Hemd erwischt wurden.
Und Murphy schimpfte sehr laut…
Der Schmied blieb an der Rückwand des Stalls stehen. Der Seemann folgte etwas langsamer. Er ging bis zu einer Stelle, wo die Risse im Holz recht breit waren und zeigte darauf. »Ich hab die Stimmen gehört und hier durchgesehen. Grose war rechts neben den Pferdeboxen.«
Sein zahnloses Flüstern war kaum zu verstehen. Er zitterte vor Angst.
Buchanan lehnte den Kopf gegen das kühle Holz und sah in den Stall. Eine brennende Petroleumlampe erhellte den Raum notdürftig. Der Schmied ließ den Blick über den strohbedeckten Boden und die leeren Pferdeboxen gleiten. Es war niemand zu sehen. Allerdings war es ungewöhnlich, dass
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