0680 - Der verratene Traum
Ort?«
»Überall.«
Zamorra seufzte leise. Es widerstrebte ihn, sich der Aufforderung dieser körperlosen Stimme ohne die geringste Erklärung zu beugen. Auf der anderen Seite lockte ihn die Aussicht, aus dem langweiligen Nichts herausgeholt zu werden. Schlimmer als diese vollkommene Dunkelheit konnte der Ort, an den sie ihn bringen wollte, nicht sein.
Er zögerte kurz und wog beide Alternativen ab. Die Neugier siegte.
»Also gut«, sagte er entschlossen und streckte die Hand aus. Er berührte Fell, spürte einen kurzen Ruck.
Und stand im Paradies.
Zumindest zweifelte Zamorra keine Sekunde daran, dass das Paradies so aussah.
Er stand inmitten einer sonnendurchfluteten Dschungellandschaft. Es war feucht und warm, aber die Luft hatte nicht die modrige Schwere eines Regenwaldes, sondern roch leicht und rein. Das Grün der Blätter, das Rot und Blau der Vögel und selbst das Braun der kleinen Säugetiere, die sich an einem Bach erfrischten; all diese Farben schienen klarer zu sein, als alles, was er je zuvor in seinem Leben gesehen hatte.
Zamorra fühlte sich wie jemand, der die Welt immer durch eine dunkle Brille betrachtet hatte und jetzt zum ersten Mal die wahren Farben genießen konnte. Jeder Blick, Geruch und Laut war rein und klar. Die ganze Landschaft schien von einer geradezu überschäumenden Lebensfreude erfüllt zu sein. Er erinnerte sich an seinen ersten Eindruck des australischen Buschs, der ihm blass und karg vorgekommen war. Jetzt wusste er, dass die ganze Welt nicht mehr als eine schlechte Kopie dieses Ortes war.
Es war ein Erlebnis, das Zamorra so sehr beeindruckte, dass er für einen Moment vergaß, wie er hierhin gekommen war. Aber seine Begleitung brachte sich schnell wieder ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit.
»Willkommen in der Traumzeit, Zamorra«, sagte das Känguru.
***
Australien 1794
Wantapari saß im Kreis der verheirateten Krieger und der Alten. Er hatte Gulajahli die schockierenden Neuigkeiten überbracht. Wie erwartet hatte der Schamane sofort die anderen Männer aus dem Schlaf gerissen und darüber informiert. Nur die jungen Männer, die Frauen und die Kinder durften an der Versammlung nicht teilnehmen. So wollte es der Brauch. Sie saßen in einiger Entfernung an einem Feuer und warteten nervös, denn solche Beratungen wurden nur einberufen, wenn es um große Probleme ging.
»Und du bist wirklich sicher, dass du an der richtigen Stelle warst?«, fragte ein alter Mann, dessen langes weißes Haar in der Morgendämmerung hellrot leuchtete.
Wantapari nickte. Mittlerweile wiederholten sich die Fragen, die man ihm und den anderen Kriegern stellte. War der Weiße wirklich tot gewesen? Hatten Dingos seinen Körper weggezerrt? War eine Patrouille der Weißen vielleicht über ihn gestolpert und hatte ihn zurück ins Lager gebracht?
Wantapari hatte all diese Fragen beantwortet. Ja, er war ganz sicher tot. Nein, es gab weder Spuren von wilden Tieren, noch von Dingos, Pferden oder Menschen.
Langsam ebbte der Wissensdurst der Männer ab. Sie starrten stumm in die Flammen des Lagerfeuers und warteten darauf, dass einer von ihnen den Mut aufbrachte, den Satz zu sagen, den sie alle dachten. Nur Gulajahli saß abseits. Sein Körper bewegte sich rhythmisch vor und zurück. Er war in eine tiefe Trance gefallen.
Schließlich war es ein älterer Krieger namens Doolooai, der das Schweigen brach. »Dass der Körper des Weißen verschwunden ist, muss ein Zeichen sein. Das schwarze Känguru hat ihn zu sich genommen.«
»Ich denke auch, dass es so ist«, stimmte ein anderer Krieger zu. »Aber was soll uns dieses Zeichen sagen? Warum lässt das Känguru zu, dass ein böser Geist auf seiner Lichtung lebt?«
Er warf einen fragenden Blick auf den Schamanen, der nicht reagierte.
Wantapari räusperte sich und lenkte die Aufmerksamkeit der Runde auf sich. »Ich kenne die Antwort«, sagte er. »Das schwarze Känguru hat Zamorras Körper zu sich geholt, weil es nicht will, dass sein Geist jetzt schon zu den Ahnen geht. Es wird seinen Körper erst freigeben, wenn wir den Tod des Weißen gerächt haben. So lange wird sein böser Geist ruhelos unseren Stamm verfolgen.«
Die Männer murmelten verstört untereinander.
»Willst du dich etwa gegen die Weißen stellen?«, fragte Doolooai kopfschüttelnd, »nur um einen anderen Weißen zu rächen?«
»Er war ein Freund,« entgegnete Wantapari aufgebracht. »Er hat uns geholfen. Wir haben die Pflicht, seinen Tod zu rächen. Wisst ihr noch, als die Soldaten vor
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