0680 - Der verratene Traum
war auch kein Schock - im Gegenteil, der Engländer war erfüllt von einer wilden Energie. Verschwunden war die Angst und die Unsicherheit, die ihn seit dem Tag, als er an Bord des Gefangenentransports gestiegen war, beinahe erdrückt hatte. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so gut gefühlt und noch nie so frei.
Um ihn herum wurde es Nacht. Durch die Baumkronen schien der Vollmond. Watling blieb stehen und starrte einen Moment in das kalte weiße Licht. Dann öffnete er den Mund und heulte mit aller Lautstärke, die er aufbringen konnte, den Mond an. Es war ein aufregendes, befreiendes Gefühl.
Ein kleiner Teil seines Verstands fragte sich, warum es spannend sein sollte, den Mond anzuheulen, aber der Rest seines Gehirns war so stark mit der Ausschüttung von Adrenalin und Hormonen beschäftigt, dass es die Frage ignorierte.
Watling spürte einen brennenden Schmerz, der seinen ganzen Körper durchzog. Er schrie und stürzte auf den Waldboden. Es schien, als würde ein unsichtbarer Riese an seinen Muskeln, Sehnen und Knochen zerren, sie verformen und neu zusammensetzen. Seine Kleidung zerriss, die Schultern wölbten sich nach vorne, der Rücken krümmte sich. Entsetzt beobachtete Watling, wie graues Fell sich aus den Poren seiner Haut schob und seinen Körper bedeckte. Er heulte und knurrte seinen Schmerz in die Nacht.
Das ist nicht gut, das ist überhaupt nicht gut, dachte der letzte menschliche Rest seines Verstands nervös. Doch denn legte sich auch über ihn der rote Nebel tierischer Wahrnehmung. Eine neue Welt aus Gerüchen, Bildern und Instinkten tat sich auf. Alles veränderte sich. Und die Gier nach Blut und Beute wurde schier unerträglich.
Thomas Watling war zum Werwolf geworden.
***
Australien 1794
Mit einem Ruck begann Zamorras Herz wieder zu schlagen.
Der Parapsychologe sah sich desorientiert um. Er stand mitten im australischen Busch. Die Traumzeitwesen schienen nicht viel von Verabschiedungen zu halten, denn sie hatten ihn ohne Vorwarnung zurück in die reale Welt versetzt.
War mir auch ein Vergnügen, euch kennen zu lernen, dachte Zamorra sarkastisch und öffnete sein Hemd, um sich die Stelle anzusehen, wo die Kugel ihn getroffen hatte.
Wenigstens hatten die Traumzeitwesen ihr Versprechen eingelöst, denn die Wunde war fast verheilt und schien keine Probleme mehr zu machen.
»Immerhin etwas«, murmelte er und machte sich auf den Weg.
Der Besuch in der Traumzeit hatte noch einen zweiten positiven Effekt, den Zamorra allerdings erst nach einigen Minuten bemerkte: Er begriff, wie das Leben im Busch funktionierte. Die Pflanzen und Tiere, die ihn bevölkerten, existierten nicht unabhängig voneinander, sondern waren in einem komplexen System verbunden, das ihn vor Gefahren warnte und ihm den Weg zu Nahrungsquellen wies. Zamorra suchte nach einem passenden Vergleich, um die Situation zu beschreiben und dachte schließlich an einen Touristen, der hilflos durch eine unbekannte Stadt irrt und plötzlich einen Stadtplan in die Finger bekommt - nur mit dem Unterschied, dass Zamorras Stadtplan aus lebendigen Wesen bestand.
Er fragte sich, wie lange er dieses Wissen behalten würde.
Zielsicher bahnte sich der Dämonenjäger seinen Weg durch den Busch.
Nach einiger Zeit erreichte er die Felsformationen, auf denen sich die heiligen Zeichnungen der Eora befanden. Gulajahli hatte sie ihm bei seinem Besuch im Lager gezeigt und zu erklären versucht. Mit mäßigem Erfolg, denn die mythische Welt der Eora war Zamorra zu jenem Zeitpunkt völlig fremd gewesen. Selbst jetzt, nach seiner Begegnung mit den Traumzeitwesen, glaubte der Parapsychologe, nur einen kleinen Teil von dem verstanden zu haben, was sich hinter dem scheinbar steinzeitlichen Leben der Eora verbarg.
Ein Knacken riss ihn aus seinen Gedanken. Zamorra drehte sich um und sah Gulajahli, der zwischen den Felsen stand. Die Fingerkuppen des Schamanen waren weiß. Er hatte wohl an einer neuen Zeichnung gearbeitet. Der Dämonenjäger sah keine Überraschung in seinen Augen.
»Du bist gekommen, um mich zu töten«, stellte Gulajahli ruhig fest.
Zamorra nickte. »Ja.«
Beide schwiegen. Die Situation war absurd. Zamorra empfand keinen Hass gegen den Schamanen. Im Gegenteil, er verstand, warum Gulajahli seinen ehrgeizigen Plan durchgeführt hatte. Der Schamane hatte keine dunklen Motive oder bösartige Absichten. Es war ihm nur um die Rettung seines Volkes gegangen, aber für diese Rettung zahlte der Rest des Planeten einen zu hohen
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