0695 - Hexentod
ein solches Eingreifen schon im Ansatz verhindern, denn er saß jetzt hier fest und konnte nicht fort. Nicht eher, als bis er mit seiner Arbeit fertig war.
Und bis dahin war Yaga sicher auch schon mit Merlin fertig - in welcher Form auch immer!
Nun, es ließ sich nicht mehr ändern.
»Soll ich meines Bruders Hüter sein?«, murmelte er sarkastisch.
Und setzte seine Arbeit wütend fort.
***
Etwas veränderte sich.
Zamorra nahm es erstaunt zur Kenntnis. Es war, als würde eine andere Welt die Realität durchdringen und mehr und mehr überdecken - oder eine andere Zeit!
Zamorra glaubte einen Film zu sehen, der von einem anderen überblendet wurde, und von Minute zu Minute wurde die Überblendung deutlicher, wirklicher. Sie verdrängte die Realität. Was blieb, war der imaginäre Halbmond mit Zamorra, Nicole, Merlin, dem Lachenden Tod und der Baba Yaga.
Aber irgendwie wurden auf eine seltsame Art auch die nur gedachten Konturen des Halbmonds deutlich erkennbar. Sie waren sichtbar und unsichtbar zugleich.
Die Tempelruinen begannen sich zu verändern. Herumliegende Trümmer verschwanden, stattdessen entstanden die Bauten in ihrer alten Pracht, wie sie einst vor mehr als zweitausend Jahren ausgesehen haben mussten.
Geisterhaft und schemenhaft schien die alte minoische Kultur wieder neu zu erstehen. Der Ort, an dem sich der Halbmond befand, wurde zum Vorplatz einer riesigen Tempelanlage, zu einem großen Festplatz. Dahinter die Eingangssäulen des Tempels selbst, und Zamorra glaubte Gestalten zu sehen, die dort standen und dem Geschehen zuschauten - aber jedesmal, wenn er genauer hinsah, wurden diese Gestalten durchscheinend und entzogen sich seinem Blick, um wieder aufzutauchen, sobald er sein Interesse auf etwas anderes richtete.
Beispielsweise auf die riesigen Stiere, die in einem Kreis um den Halbmond herumzulaufen schienen… Zamorra sah sie, aber auch hier entzogen sie sich wiederum seinem Blick, wenn er sich darauf konzentrierte. Es war seltsam, dass er alles immer wieder nur ›nebenher‹ sehen konnte, weil alles verschwamm, alles zerfloss, sobald er mehr sehen wollte.
Es war eines der uralten minoischen Tempelrituale, das sich hier abspielte. Der Stiertanz zu Ehren der Götter… Zamorra kannte es aus den Beschreibungen und aus alten Bildern, welche die lange Zeit überdauert hatten, um sich auch im letzten Schulbuch wiederzufinden, das über das antike Kreta berichtete. Und jetzt sah er nicht nur die starren Bilder, sondern den Vorgang an sich, gerade so, als sei er selbst dabei - oder als erlebe er es irgendwie in einer Art Traum…
Er sah nackte Knaben und Mädchen, die sich mit fast schon unglaublicher Körperbeherrschung und tänzerischer Eleganz den rennenden Stieren in den Weg stellten. Sah, wie die Stiere die Hörner senkten, um die zweibeinigen Hindernisse aufzuspießen und beiseite zu schaufeln, oder sié einfach niederzurennen. Doch jedesmal im Augenblick des Zusammenstoßes gelang es den jungen Tänzern und Tänzerinnen, die Hörner der Stiere zu erfassen und sich daran in die Höhe zu schwingen. Sie wirbelten durch die Luft, vollzogen Salti über die Rücken der im Kreis dahinrasenden Tiere, um hinter ihnen wieder auf dem Boden zu landen und sich dem nächsten Stier entgegenzustellen.
Das alles geschah in unglaublicher Schnelligkeit, mit einer Präzision und Eleganz, die fast schon maschinenhaft exakt wirkte.
Und es war lebensgefährlich.
Ein falscher Griff, ein falsches Einschätzen der Kopfbewegung, die der bei den Hörnern gepackte Stier unweigerlich machen würde - und es war vorbei. Und zwischen der Landung im aufgewirbelten Staub, der die Sicht zu rauben drohte, und dem nächsten heranrasenden Stier lagen manchmal nur ein paar Sekunden, in denen der Stiertänzer sich bereits auf den nächsten Salto einstellen musste.
Es war lebensgefährlich - und schön.
Es war ein wundervoller Anblick, die schlanken, jungen Körper durch die Luft wirbeln zu sehen, wie schwerelos, gerade so als hätten die Götter ihnen die Gabe des Fliegens verliehen.
Zamorra fragte sich, wie gefestigt im Glauben an diese Götter man sein musste, um sich auf einen solchen Todestanz einzulassen. Was waren das für Menschen gewesen, die in der Zeit des kretischen Königs Minos gelebt hatten?
Denn das, was er hier beobachtete, war keine Fiktion.
So wie es sich ihm zeigte, hatte es sich einst tatsächlich abgespielt; das Ritual war überliefert in allen Einzelheiten.
Und je länger dieser Tanz dauerte, desto
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