0697 - Der Leichenholer
gesehen. Irgendwo in der Nähe musste er sich versteckt halten. Suko und ich waren wohl die Einzigen, die erschienen waren, um ihn nicht zu bewundern.
Allmählich verstummten die Gespräche. Das Wispern und Flüstern versickerte in den Schatten.
Ruhe trat ein…
Hier und da ein heftiger Atemzug, ein Scharren mit glatten Sohlen auf dem blanken Parkett.
Dann wurde es hell. Scheinwerfer rückten die vier aufgestellten Bilder ins rechte Licht. Das geschah nicht auf einmal. Zunächst war das Licht sehr schwach. Von Sekunde zu Sekunde aber verstärkte es sich.
Die Zuschauer waren stumm vor Bewunderung. Auch wir sagten nichts, nur bewunderten wir die Bilder keineswegs, wir waren eher von ihnen geschockt!
Wir sahen ungewöhnliche Farbmuster. Da liefen die Farben Rot, Blau, Grün und Gelb ineinander, aber pur bis zu einem bestimmten Punkt in der Mitte, denn dort hatte Rafugil die Frauen abgebildet.
Und die waren ein Kunstwerk, ging man von einer realistischen Malerei aus. So detailliert, so echt, als wären die Personen nicht gemalt, sondern einfach in die Bilder gestellt oder gelegt worden.
Das schien auch Suko so zu sehen, denn er flüsterte: »Darf es denn wahr sein…?«
Er erhielt eine Antwort, nur anders, als wir und das Publikum es erwartet hatten.
Rafugil erschien.
Nein, er kam nicht, das wäre falsch ausgedrückt gewesen, dieser Mann hatte seinen Auftritt, und ich spürte im selben Augenblick die Aura des Bösen, die er abstrahlte…
***
Er hatte hinter den beiden mittleren Bildern gewartet, war durch die Lücke zwischen den Gemälden getreten und benutzte sie nun wie ein Mannequin den Laufsteg.
Die Besucher waren so fasziniert, dass sie nicht einmal Beifall spenden konnten.
Und Rafugil hatte sich auch herausgeputzt. Er trug einen schneeweißen, ziemlich eng anliegenden Anzug und darunter eine zugeknöpfte Weste aus schwarzer Seide. Sein Hemd war cremefarben, und den Kragen an der Vorderseite schmückte eine blutrote Schleife. Das nachtdunkle Haar wuchs buschig auf seinem Kopf. Es konnte auch sein, dass er es für diesen Auftritt extra toupiert hatte. Darunter wirkte die Haut seines Gesichts beinahe fahl, obgleich sie so etwas wie Sonnenbräune zeigte.
Seine Augen waren dunkle Kreise, in denen sich einige helle Reflexe widerspiegelten.
Er lächelte, aber er zeigte sein Gebiss nicht. Das Lächeln kam mir irgendwo überheblich und gleichzeitig hoheitsvoll vor, während er auf die Besucher schaute und es so wirkte, als würde er jeden Einzelnen von ihnen persönlich durch einen Blick seiner Augen begrüßen.
Die Überraschung dauerte sekundenlang, erst dann traute sich jemand aus den hinteren Reihen zu klatschen.
Das Geräusch hörte sich zunächst etwas verloren an, was sich allerdings schnell änderte, denn alle fielen mit ein. Der Beifall donnerte orkanartig der Decke entgegen. Einige Besucher trampelten sogar. Schreie des Entzückens waren ebenfalls zu hören, und es gab sicherlich nicht wenige Menschen, die sich ihm an den Hals geworfen hätten.
Aber sie hielten sich zurück, und der Maler genoss diesen Applaus, der Balsam für Leib und Seele war.
Er hatte sich hoch aufgerichtet, seine Augen glänzten, sie waren leicht verdreht. Er ließ die Zeit verstreichen, den Beifall wie eine Woge an sich herangleiten, bevor er sich vor den Zuschauern verbeugte.
Er tat es mit der Grandezza eines spanischen Granden. Er machte es mehrmals hintereinander, der Beifall wurde nicht weniger, und schließlich musste er mit beiden Händen abwinken, um seine Fans endlich unter seine Kontrolle zu bekommen.
Es wurde still.
Rafugil wartete ab, die rechte Hand leicht angehoben, die Linke an der Seite ausgestreckt.
»Der wird gleich eine Rede halten!«, hauchte mir Suko zu.
»Das hoffe ich.«
»Warum?«
»Weil ich damit rechne, dass er die vier neuen Kunstwerke erklären will. Eine Frau ist Colette Mercier, und die anderen drei sind die Verschwundenen. Wir hätten doch einen französischen Kollegen mit in die Ausstellung bringen sollen.«
»Das schaffen wir auch allein.«
»Meine Lieben! Meine lieben, lieben Gäste…«, so begann Rafugil seine Rede, und seine Stimme troff vor Schmalz. Sie war so etwas von unnatürlich, dass sich mir der Magen umdrehte, aber den meisten Besuchern gefiel es.
Er redete weiter. »Ich bin überwältigt, meine Lieben. Ja, ich bin einfach überwältigt. Was ich hier erlebe, hätte ich nicht für möglich gehalten, und ich frage mich wirklich, ob meine Arbeit und ich es wert sind, mit
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