0697 - Der Leichenholer
ab.«
Suko kehrte zurück, schaute mich an, hob die Schultern und sah in mein lächelndes Gesicht.
»Nun?«
»Nichts, John. Ich habe nichts entdeckt, was darauf hindeutet, wie es den Frauen gelungen sein könnte, in die Bilder zu steigen. Das ist einfach nicht zu fassen.«
»Könnte es ein Tor sein?«
»Du meinst, ein Dimensionstor?«
»Richtig.«
Suko überlegte. »Ja, eine andere Möglichkeit käme dafür wohl nicht in Betracht.«
Wir wurden von den Ereignissen abgelenkt, denn der Maler selbst hatte wieder das Wort übernommen. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Er hatte so lange abgewartet, bis sich die Besucher wieder gefangen hatten, dann trieb er sein Spiel weiter.
Er redete nicht mehr so laut. Seine Stimme klang eher zischend und hinterlistig. »Ich freue mich, dass die Bilder ersteigert worden sind, denn damit werdet ihr in den Genuss des gesamten Motivs kommen. Alles gehört euch. Angefangen vom Rahmen bis hin zur Leinwand. Und es ist ein besonderes, ein einmaliges Geschenk, das kann ich euch versprechen.«
»Auch die Frauen?«, fragte die weibliche Person.
»Sicher.«
»Was ist denn mit ihnen?«
»Sie leben.«
»Aber das ist unmöglich…«
»Doch, sie leben.«
»Nein, wieso?« Die Fragerin drehte sich um. Sie war völlig von der Rolle und schaute sich Hilfe suchend um. Ihre Mitsteigerer standen irgendwie betreten daneben, und auch von den anderen Zuschauern konnte sie keine Antwort erwarten.
»Willst du eingreifen, John?«
»Noch nicht.«
Er brummte, war damit nicht einverstanden und meinte, dass es schwieriger würde, etwas zu unternehmen, wenn die Personen erst die Bilder verlassen hatten.
»Und wer ist der Leichenholer, von dem Edna gesprochen hat?«
Die Antwort meines Freundes klang spöttisch. »Möglicherweise so etwas wie ein Ehrengast.«
»Richtig, auf ihn warte ich.«
Noch ließ er sich nicht blicken. Auch die Gespräche waren jetzt verstummt. Die Stille lastete auf jedem. Die Besucher empfanden sie als bedrückend. Ich war nicht der Einzige, der spürte, wie die Kälte in mir hochkroch.
Lange hielt die Stille nicht an, denn die vier Blutsaugerinnen im Bild bewegten sich und erzeugten dabei leise Geräusche, die wie ein Schaben klangen, als sie über die Leinwand hinwegrutschten.
Ich konzentrierte mich auf die blonde Valerie und sah etwas, das mir zuvor nicht aufgefallen war.
Dort, wo sich ihre Körperumrisse mit denen der Leinwand berührten, entstand ein leichtes Flimmern. Da wurden die Umrisse von einem ungewöhnlichen Licht nachgezeichnet, als wollten sie dieser Person einen gespenstischen Glanz geben.
Und sie kam…
Es war mehr ein Schweben, wie sie die Leinwand verließ. Sie drückte sich hoch, drehte sich dabei zur Seite und streckte das rechte Bein mit einer geschmeidigen, aber dennoch trägen Bewegung aus, sodass es wirkte, als wäre eine Katze erwacht.
Sie drückte auch den Fuß durch, aber sie war keine Balletttänzerin, sie stieg normal aus dem Bild und kam mir vor wie eine blasse, geisterhafte Erscheinung.
Dann war sie draußen.
Suko hielt sie unter Kontrolle. Ich schaute deshalb nicht hin, denn mich interessierte genau die dunkle Stelle, die sie auf der Leinwand zurückgelassen hatte.
Dahinter war nichts.
Keine Abgrenzung, nicht die Wand des Saals, die wir eigentlich hätten sehen müssen.
Nur Leere…
Magische Leere, ein Tunnel, der hineinführte in eine andere Welt oder Dimension. Ein Loch in das Schattenreich der Dämonen, ein Zugang nur für sie.
Ich saugte durch die Nase den Atem ein. Was wir hier erlebten, war eine hochgradige Magie. Nicht der Künstler zog die Fäden, sondern die Kraft, der er diente.
Vielleicht der Leichenholer?
Valerie hatte das Bild hinter sich gelassen und bewegte sich auf den Käufer zu. Der Mann stand wie angegossen. Er rührte sich auch nicht, als ihm die Person einen Arm auf die Schultern legte und so tat, als wolle sie ihn an sich drücken.
Wahrscheinlich spürte er, dass er es mit einem Wesen zu tun hatte, das nicht in seinen Kreis passte.
Dass Valerie ihr Bild verlassen hatte, war für die anderen drei Mädchen ein Zeichen. Auch sie wollten nicht länger Teil des Gemäldes sein und sahen zu, dass sie aus dem Motiv hervorsteigen konnten.
Suko und ich kannten dies, brauchten uns darum nicht zu kümmern. Uns kam es allein darauf an, wie es wohl weitergehen würde. Was hatten diese Gestalten vor? Wenn es sich um echte Vampire handelte - davon mussten wir einfach ausgehen -, würden sie das Blut der Menschen trinken
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