0697 - Der Leichenholer
Mittelpunkt eines Platzes, von dem sternförmig vier Fahrbahnen abzweigten. Sie war ein sehr modernes Bauwerk aus Beton, Glas und Stahl. Manche bezeichneten sie als ein Kunstwerk für sich. Ich war da anderer Meinung, denn auf mich machten die alten Bauten einen besseren Eindruck.
Eine breite, aber sehr flache Treppe führte zum gläsernen Eingangsbereich hoch, und in den Scheiben spiegelte sich das abendliche Sonnenlicht wie ein rötlicher Schleier.
Suko und ich waren nicht die einzigen Besucher, die der Treppe entgegen gingen. Zahlreiche Menschen rahmten uns ein, ungewöhnlich gekleidet, keiner kam im Smoking, und es hatte sich auch keine der Damen in ein Abendkleid gezwängt.
Zwei Aufpasser in dunkelroten Fantasieuniformen kontrollierten die Karten und zeigten jedes Mal ein freundliches Grinsen.
Auch wir wurden so abgefertigt und bekamen von einer lächelnden Brünetten jeder einen Katalog in die Hand gedrückt, in den wir aber nicht schauten, sondern uns gleich dem Zentrum der Halle zuwandten, wo die Vernissage stattfand.
Wir freuten uns schon darauf, Rafugil endlich gegenüberstehen zu können, hielten auch auf dem Weg zum Zentrum die Augen auf, aber, er selbst befand sich nicht unter den Gästen.
Suko hatte heute nicht gerade seinen optimistischsten Tag. Er meinte: »Ich könnte mir sogar vorstellen, dass unser Freund an seinem großen Abend nicht erscheint.«
»Darüber denke ich anders. Künstler sind eitel. Außerdem wird er den Erfolg seiner Ausstellung genießen wollen. Aber wir werden sehen.«
Noch befanden wir uns in der Vorhalle, wo die langen Fensterscheiben bis hinunter zum Boden reichten. Hinter dem Glas breitete sich ein kleiner japanischer Steingarten aus, ein Kunstwerk für sich, bei dessen Gestaltung man sich große Mühe gegeben und Wasserbahnen geschaffen hatte, die sich in einem ständigen Fluss befanden.
Es dämmerte.
Die Sonne zeigte sich als Glutball, als hätte jemand eine Riesenorange gegen den Himmel geschleudert. Sie stand dort wie ein Abziehbild zwischen den starren Fahnen der Dämmerung und würde bald im Meer verlöschen.
Gläser klirrten, weil Ober mit vollen Tabletts umhereilten. Wir wollten nicht auffallen, nahmen uns Gläser, allerdings gefüllt mit Saft und nicht mit Alkohol.
So bewaffnet betraten wir den eigentlichen Ausstellungsraum, der hallenähnliche Ausmaße hatte und von einem Licht gespeist wurde, das aus zahlreichen in die Decke integrierten Leuchten nach unten strahlte. Auf dem blanken Parkettboden spiegelte es sich wider.
Die Besucher bewunderten die Bilder oder taten zumindest so.
Die Mitte des Saales war für das kalte Büfett frei gelassen worden. Es war kreisförmig aufgebaut und bestand aus zahlreichen kleinen Köstlichkeiten, meist aus dem Meer. Eis kühlte die zahlreichen Schalen und Pfannen mitsamt dem Inhalt.
Wer wollte, konnte sich etwas nehmen. Es gab nicht wenige, die sich mehr für das Essen als für die Bilder interessierten.
Dazu gehörten wir nicht.
Jedes Bild schauten wir uns an und erkannten, dass sich die Motive wiederholten. Die Farben, die Linien, die Schwünge, all das, was diesen Künstler auszeichnete. Was wir suchten und weswegen wir gekommen waren, sahen wir nicht.
Keine Spur des Meisters.
Und kein Hinweis auf die verschwundenen Mädchen.
Allerdings war am Ende des Saales eine weiße, verschiebbare Wand aufgebaut worden. Was sich dahinter befand, konnte keiner der Besucher sehen. Außerdem hielten zwei Aufpasser Wache, damit niemand diesen Weg einschlug.
Neben mir stand eine Frau mit aschgrauen Haaren, in denen Perlen schimmerten. Sie trug ein kurzes, sehr enges Minikleid und hatte die Schminke sicherlich pfundweise auf ihr Gesicht geschmiert.
Ich sprach sie an. »Pardon, Madame, wissen Sie vielleicht, was sich hinter der hellen Wand befindet?«
Zuerst schaute sie mich wütend an. Dann klimperte sie mit den Augendeckeln, auf die sie Silberpuder gestreut hatte. »Sie wissen das nicht, Monsieur?«
»Nein, nicht genau, ich…«
»Dann sollten Sie mal in Ihren Katalog schauen«, belehrte sie mich. »Da werden Sie dann einiges finden. Der Meister wird bald erscheinen und seine neuen Werke vorstellen. Vier sind es an der Zahl. Und er will damit die Kunstwelt revolutionieren.«
»Meinen Sie, dass er es schafft?«
»Rafugil immer. Er ist einfach wunderbar.« Sie fing an von ihm zu schwärmen. Sicherlich war sie ein Fan von ihm. Dann ging sie weiter und schwebte dabei wie auf Wolken.
Suko hatte zugehört. Er grinste und
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