0698 - Der Ghoul aus dem Gully
niemand, Harry.« Ich stand auf, steckte die Karte ein und trat an eines der Fenster. Es war das, das der Straße zugewandt lag.
Dunst, Nieselregen und Nässe machten beinahe blind. Es war ein scheußliches Wetter, für den Monat Juni unwürdig. Wenn Autos vorbeifuhren, sahen sie aus wie Geister, die ihre Laternen eingeschaltet hatten. Die Reifen schmatzten auf dem nassen Untergrund. Wie Schatten fuhren die Wagen an, wie Schatten verschwanden sie auch.
Ein Trabbi röhrte auf unseren Wagen zu. Was er in die Luft stieß, war noch dichter als der Dunst.
Auch er tuckerte vorbei und wurde vom Wetter aufgesaugt.
»Eigentlich könnten die Mädchen ja verschwinden«, meinte Harry. »Bei einem derartigen Wetter wird kaum jemand erscheinen.«
Ohne mich umzudrehen, gab ich die Antwort. »Die werden einen Teufel tun. Es sei denn, die wollen Ärger mit ihren Zuhältern haben. Dann können sie abhauen.«
»Daran habe ich nicht gedacht.«
»Das kann für euch zu einem Problem werden«, sagte ich. »Das sind bestimmt Zuhälter aus dem Westen, und die wissen leider zu gut, wie der Hase läuft. Verlaß dich drauf.«
Ich wollte mich wieder umdrehen und mich zu Harry setzen, als mir eine Bewegung auffiel. Im Regendunst sah ich einen gelben Flecken, der auf unseren Wagen zutanzte. Bei näherem Hinsehen stellte ich fest, daß wir Besuch bekamen. Es war eine Frau, die einen gelben Ostfriesennerz trug.
»Wir kriegen Besuch, Harry.«
Der Kommissar, der seine Waffe überprüft hatte, steckte sie wieder weg. »Und wer ist es?«
»Eines der Mädchen.«
Stahl grinste. »Ob die Kleine uns ein Sonderangebot machen will?«
»Bestimmt nicht.«
Es klopfte. Ich öffnete, schaute auf den nassen Umhang und hörte eine Frage: »Darf ich reinkommen?«
»Sicher.«
Sie kam und wirkte wie ein Heinzelmännchen, denn sie hatte noch die Kapuze über den Kopf gezogen. Ich schloß die Tür. Die Kleine zog ihren Mantel aus, schüttelte sich und schimpfte über das Wetter.
»Da kommen keine Kunden, wie?«
Sie nickte Harry zu. »Richtig.« Dann nahm sie Platz. Es wollte ihr nicht gelingen, den dünnen, schwarzen Rock ein wenig tiefer zu ziehen. Er war einfach zu knapp geschnitten. Darüber trug sie einen weißen Pullover mit einem mächtigen Ausschnitt, der ihren Busen in die Höhe drückte. Ihr blasses, ungeschminktes Gesicht wurde eingerahmt von kurzen Locken.
»Ich bin Corinna«, sagte sie.
»Gut.« Harry nickte ihr zu. »Und was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches, Gnädigste?«
Sie zündete sich eine Zigarette an und meinte: »In der Gewerkschaft nennt man das Vertrauensmann oder Vertrauensfrau. So etwas bin ich für die Mädchen hier.«
»Und die haben Sie geschickt.«
»So ist es.«
»Weshalb?«
Corinna rauchte, lachte, hob die Schultern und wiederholte das Wort zweimal. Dann sagte sie leiser:
»Weil sie Angst haben, meine Herren. Die Mädchen haben Angst, Schiß. Sie zittern, denen klappert das Herz. Sie wissen nicht, was gespielt wird.« Sie rührte mit der Zigarette im Ascher herum. »Sie haben einfach Angst, das ist es.«
»Könnt ihr denn nicht verschwinden?« fragte Stahl.
Sie lachte. »Gibt es eine Gefahr? Sehen Sie eine Gefahr für uns, Kommissar?«
»Nein.«
»Eben. Das sagen andere auch. Unsere Beschützer würden das nicht akzeptieren.«
»Kann ich mir denken.«
Ich mischte mich ein. »Wo sind denn Ihre Beschützer, Corinna?«
»Keine Ahnung, aber sie tauchen immer zur richtigen Zeit auf. Die haben einen Riecher. Bei diesem Wetter ist nichts los. Da bleibt der Pappi lieber zu Hause. Das wissen auch die Loddels. Jetzt sind sie unterwegs, um Kunden aufzutreiben.«
»Wie machen sie das denn?«
»In Kneipen schätze ich.«
Ich mußte lächeln. »Werden die Leute da so einfach von ihnen angesprochen und mitgenommen?«
»So ähnlich.«
»Wie stehen denn die Chancen, daß ihr mehr Betrieb…?«
Corinna winkte ab. »Bei diesem Wetter reißen auch die Loddels nichts. Wir werden wohl die nächsten Stunden hier herumhängen und uns anöden. Aber deshalb bin ich eigentlich nicht zu euch gekommen. Ich möchte wirklich wissen, was uns erwartet.«
»Das wissen wir selbst nicht.«
»Womit müssen wir rechnen?«
Ich hob die Schultern. »Nichts steht fest.«
»Man flüstert von einem Mörder, der nur noch Knochen von einem Menschen zurückläßt«, sagte Corinna und wurde dabei blaß. Zusätzlich bekam sie noch eine Gänsehaut.
»Das kann sein.«
Sie schaute Harry an, dann mich. »Aber… aber… das ist doch nicht
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