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07 - Old Surehand I

07 - Old Surehand I

Titel: 07 - Old Surehand I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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niemand erfahren.“
    „Wirst du wirklich schweigen?“
    „Ich schwör es! Und du?“
    „Darf ich wirklich nicht davon sprechen?“
    „Zu keinem, keinem Menschen, außer zu meinem Wawa Derrick; der muß es wissen. Gib mir deine Hand darauf!“
    „Hier ist sie.“
    Ich gab sie ihr; sie drückte sie mir; dann stieg sie den Berg hinab, doch nicht weit, dann drehte sie sich noch einmal um, legte den Finger zum Zeichen des Schweigens an den Mund und wiederholte:
    „Zu keinem einzigen Menschen! Und verlier ja nicht meinen Myrtle-wreath!“
    Dann verschwand sie im Gebüsch. Ich stand noch eine ganze Weile auf derselben Stelle; dann ging ich langsam fort. Welch eine Begegnung! Mir war ganz sonderbar zumute. Wer war dieses Weib? War sie wirklich eine Indianerin? Aber konnte es denn möglich sein, daß sie eine Weiße war? Um diese beantworten zu können, hätte ich sie mehr als dieses eine Mal sehen und sprechen müssen. Sie war eine Wahnsinnige; aber sie hatte dennoch einen tiefen, seelischen Eindruck auf mich gemacht. Sie war ein Rätsel, ein unergründliches, tief tragisches Rätsel, unergründlich, weil ich keine Zeit hatte, es zu lösen. Der Wawa Derrick existierte jedenfalls nicht nur in ihrer Phantasie, sondern in Wirklichkeit, aber wo? Und wer war er? Ein Indianer? Wahrscheinlich, denn der Ausdruck Wawa deutete darauf. Und der Myrtle-wreath, was war es mit dem? War er vielleicht die Ursache ihres Wahnsinns? Oder hatte sie in dem Augenblick, als sie wahnsinnig wurde, den Myrtenkranz getragen? Entsetzlicher Gedanke! War das der Fall, so war sie eine Weiße und keine Indianerin. Vielleicht gab es eine Lösung. Wahrscheinlich traf ich während des Kampfs mit dem Medizinmann zusammen; da sollte er mir Rede und Antwort stehen!
    Unter diesen Gedanken ging ich zurück, versäumte dabei aber nicht die Vorsicht, die auf diesem Weg nötig war. Was sollte ich meinen Gefährten sagen? Durfte ich von dieser geheimnisvollen Tibo-wete-elen sprechen? Ich hatte ihr mein Wort gegeben, zu schweigen; mußte ich es halten, ihr, einer Wahnsinnigen? Es war wohl keine Sünde, wenn ich es brach; aber erstens ist es überhaupt häßlich und unmoralisch, ein Versprechen nicht zu erfüllen, und zweitens war ich genug unter den wilden Völkern gewesen, denen der Wahnsinn heilig ist, um mich derselben Meinung zuzuneigen. Dieses Weib hatte auf mich den Eindruck einer Ausgesonderten gemacht, und es war, als ob sich in meinem Innern um ihre Erscheinung etwas Aureolenartiges zusammenziehen wolle. Nein, sie war kein gewöhnliches Weib; der Wahnsinn erhöhte meine Pflicht, anstatt sie aufzuheben; ich mußte mein Versprechen halten!
    Mit diesem Vorsatz kehrte ich zu unsrem Versteck zurück, welches ich glücklich und unbemerkt erreichte, grad als es zu dunkeln begann; so lange war ich fort gewesen.
    „Endlich, endlich!“ wurde ich von Old Wabble empfangen, während Old Surehand stillblieb. „Fast hätte ich Angst um Euch bekommen.“
    „Es ist nicht die geringste Ursache zur Sorge vorhanden“, antwortete ich.
    „Nicht? So steht wohl alles gut?“
    „Alles.“
    „Ist der Nigger da?“
    „Der Neger, wollt Ihr wohl sagen! Ja.“
    „Aber streng bewacht!“
    „Es gibt heut im ganzen Lager nur zwei Krieger, die ihn am Tage und des Nachts bewachen; die andern sind fort, um Fleisch zu machen. Da ermüdet die Aufmerksamkeit, und wir werden es verhältnismäßig leicht haben, wie ich vermute.“
    „Wie werden wir es anfangen?“
    „Laßt mich nachdenken!“
    Das sagte ich nicht, weil ich des Überlegens bedurft hätte, denn mein Plan war schon fertig, sondern weil ich keine Lust zum Sprechen hatte. Die Indianerin lag mir noch zu sehr im Sinn. Und grad jetzt fiel mein Auge auf Old Surehand, dessen männlich-schönes, ernstes Gesicht beim letzten Tagesschimmer eine ganz eigenartige Beleuchtung zeigte, einen wehmütig rührenden Ausdruck annahm. War es wirklich so, oder täuschte ich mich? Das war ja die Ähnlichkeit, die ich vorhin, als ich das Weib erblickte, herausgefühlt hatte, ohne sie näher bestimmen zu können! Das war dasselbe Gesicht, dieselbe Stirn, derselbe Mund, nur jünger, voller, männlich anstatt weiblich, nicht von jener erschütternden Tragik, aber elegisch ernst und wehmutsvoll. Ich war überrascht, wirklich überrascht; aber im nächsten Augenblick sagte ich mir, daß ich mich täuschen müsse. Ich stand noch unter dem Eindruck der Begegnung auf der Höhe des Kaam-kulano und sah Dinge, die gar nicht vorhanden waren. Weg mit der

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