0709 - Das Seelenschwert
Fläche als Landeplatz ausgesucht hatten, und konzentrierte mich voll und ganz auf den Schatten auf der Spiegelfläche.
Was würde ich dort zu sehen bekommen? Hatte sich der Teufel diese Fläche als Gefängnis ausgesucht, das er verlassen konnte, wann immer er wollte?
Ich ging schneller.
Noch drei, noch zwei Schritte.
Dann nur noch einen.
Vor der Truhe blieb ich stehen.
Mein Blick fiel gegen den Innenspiegel. Darin »schwamm« eine Gestalt, klein wie ein Kind!
Die Gestalt wurde hin- und hergeschoben, drehte sich, kippte weg, sie zitterte, präsentierte sich mal klar, dann wieder verwaschen. Ich mußte mich schon stark konzentrieren, um sie genau erkennen zu können.
Sie war tatsächlich ein Kind, trug sogar Kinderkleidung.
Das Gesicht kam zur Ruhe. Es war mir zugewandt. Seine Züge waren wie aus hartem Porzellan.
Dann die Augen, mit Mongolenfalte. Ein Gesicht, das für Europäer nur schwerlich von einem anderen asiatischen hätte unterschieden werden können. Ich kannte es trotzdem. Vielmehr kam es mir bekannt vor in seinen Gründzügen, auch wenn sie heute anders waren.
Erwachsener…
Und ich brauchte einige Sekunden, bis ich die fürchterliche Wahrheit begriff.
Was sich dort in der Spiegelfläche abzeichnete, war nicht nur irgendein Kind, es war mein Freund Suko in der Gestalt eines Kindes. Vom Teufel beeinflußt und degradiert zu einem hilflosen Geschöpf, das irgendwie im Meer der Zeiten trieb.
Ich sank in die Knie, ohne es zu merken…
***
Jemand legte mir seine Hand auf die Schulter.
Ich reagierte nicht.
Jemand sprach mich an.
Ich kümmerte mich nicht darum.
Ich saß nur vor dem verdammten Sarg und hatte das Gefühl, allmählich wegzuschwemmen. Hineinzutauchen in die Unendlichkeit der Zeiten, in ungewöhnliche Zwischenräume, wo nicht klar war, ob das Leben oder der Tod regierte.
Ich wollte gar nichts mehr, nur noch vergessen.
Es gelang mir auch nicht, alles in die Reihe zu bekommen. Tatsachen und Einbildungen verschwammen vor meinen Augen, wurden zu einem wahren Mischmasch der Gefühle, aus dem ich es nicht schaffte, eine Lösung hervorzuheben.
Alles war anders geworden.
So verdammt anders.
»Mr. Sinclair - John…« Es war Ricos dünne Stimme, die meine Ohren erreichte. Er versuchte es immer wieder, und schließlich hatte er auch Erfolg.
»Ist schon gut, Junge«, flüsterte ich. »Ist schon gut. Ich bin ja okay, ich bin…« Den Rest verschluckte ich, weil ich merkte, daß ich gelogen hatte.
Verdammt, ich war nicht okay. Ich war überhaupt nichts. Höchstens sauer, deprimiert, ausgelaugt, völlig fertig. Gewissermaßen außer Kontrolle.
Ich hatte nichts mehr, ich war weggeschwemmt worden vom Meer der Zeit und spürte die Furcht, die wie ein schwerer Hammer in gewissen Intervallen immer wieder zuschlug.
Ich senkte den Kopf, schwankte leicht und spürte, wie mich Rico an den Schultern abstützte.
Suko, dachte ich. Verdammt, Suko, was haben sie mit dir gemacht? Was hast du getan?
Nichts hatte er getan. Der Teufel hatte über sein Schicksal bestimmt und es in die Hand genommen.
»Wollen Sie nicht aufstehen, Mr. Sinclair?« fragte Rico und faßte mich an.
»Noch nicht, danke.«
Er trat an meine rechte Seite und ließ sich dort ebenfalls ins Gras sinken.
Wir schauten beide in dieselbe Richtung und konnten nur die Truhe ansehen.
Verändert hatte sie sich nicht. Noch immer war der Deckel in die Höhe geklappt und wurde auch gehalten. Noch immer schimmerte der Spiegel wie eine genau ausgeschnittene helle Fläche in der Dunkelheit.
Sehr genau sah ich seine Grenzen, aber ich stellte auch fest, daß sich in seiner Fläche kein Schatten mehr befand.
Sie war leer.
Leer und blank…
Wo steckte Suko?
Ich war nicht in der Lage, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Nur allmählich faßte ich die Tragweite dessen, was ich zu sehen bekam. Der Spiegel war leer. Kein Suko mehr, kein Kind mehr, das auf den Namen Suko hörte.
War das normal?
Bestimmt war es normal. Aber ich hatte ihn doch zuvor gesehen, und ich war keiner Täuschung erlegen. Es gab ihn, vielmehr hatte es ihn gegeben. Suko als Kind.
Beinahe hätte ich geschrien. Ich kam mir vor wie im Auge eines Hurrikans, schien einfach fortgetragen zu werden. In eine fremde, feindliche Welt, weg von diesem Platz, an dem ich trotzdem noch sitzen blieb, weil es etwas gab, das sich dagegen stemmte. Ich wollte einfach nicht, ich wollte…
Meine Gedanken brachen zusammen, und auch mein Kopf sank dabei nach vorn.
Natürlich war Rico mein
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