0719 - Sargasso-Tod
Fünfzehnjährige schürzte nachdenklich die Lippen. Ob es wohl noch eine Welt gab, die sich von Nudraka unterschied? Eigentlich musste das so sein. Die fremden Seeleute, deren Seelen man Kabor geopfert hatte - von wo kamen die? Gab es in ihren Ländern andere Gedankenfürsten, denen man Menschenopfer bringen musste? Oder waren sie frei? Und was war mit den Algen? Die Alten erzählten manchmal von der Zeit, als die Algen noch nicht da gewesen waren. Das Wasser sollte bis zum Strand gereicht haben.
Das war für Madu unvorstellbar. Sie kannte das Meerwasser nur als eine sumpfige Masse voller Algen.
Plötzlich fühlte sich das Mädchen verzagt. Sie hatte sich in ihren Fantastereien verloren. Aber nun spürte sie eine nahende Gefahr.
Aber wo?
Madu richtete sich unter dem Baum auf und drückte ihren schmalen Rücken durch. Nervös strich sie sich über das einfache Leinenkleid. Witternd wie ein Wildhund schaute sie sich um. Das Leben in der Natur hatte ihre Sinne geschärft.
Aber sie sah nichts Verdächtiges.
Der Seewind drückte die Zweiges des Baumes gegeneinander, einige Ziegen sprangen spielerisch auf den flachen Steinen herum. Aber von einer Gefahr war weit und breit nichts zu bemerken.
Madu zuckte mit den Schultern. Vielleicht war ja ihre Fantasie mit ihr durchgegangen?
Doch da ertönte plötzlich ein unwilliges Meckern. Die Hirtin schaute zu Gou hinüber. Gou war eine ihrer Lieblingsziegen, eine schwarz-weiß gefleckte Geiß mit gesundem Appetit.
Gou hatte gerade den Kopf gesenkt, um eine saftig grüne Schlingpflanze zu verzehren.
Doch vergeblich.
Obwohl die Ziege die Ranke ins Maul genommen hatte, schien es ihr unmöglich zu sein, die Ranke zwischen ihren Zähnen zu zermalmen. Gou meckerte noch einmal genervt und unternahm einen neuen Anlauf.
Keine Chance.
Die Schlingpflanze schien unzerstörbar zu sein. Verwundert stand Madu auf. Es gab normalerweise keine Pflanze, die Gou nicht kleinkriegte. Die Ziege konnte notfalls auch Steine fressen, sagte die Hirtin immer scherzhaft zu sich selbst.
Neugierig trat das Mädchen näher.
Madu war in Nudraka geboren worden und aufgewachsen. Sie kannte die Natur des Reiches. Aber ein solches Gewächs hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Die Schlingpflanze war kräftiger als jede andere, die Madu kannte. Die Hirtin war auch nicht sicher, woher das Gewinde kam. Wahrscheinlich aus irgendwelche Felsspalten.
Madu beugte sich über das Geflecht.
Die Ranken schillerten in einem kräftigen Grün. Und doch wirkten sie nicht so harmlos wie andere, normale Pflanzen. Plötzlich wurde Madu klar, woher die unbestimmte Bedrohung gekommen war, die sie seit einiger Zeit fühlte.
Von diesen Schlingpflanzen!
Kaum war Madu dieser Gedanke gekommen, als sie jemand von hinten an der Schulter berührte.
Zu Tode erschrocken drehte sich das Mädchen um.
Doch hinter ihr stand kein Mensch. Sie war auch nicht durch eine Ziege oder ein anderes Tier angestoßen worden.
Eine weitere Ranke reckte sich hinter Madu auf Kopfhöhe empor.
Und bevor die Hirtin diese weitere Bedrohung begreifen konnte, hatte sich die Rebe um ihren Hals geschlungen!
Instinktiv griff das Mädchen mit beiden Händen in das Geflecht. Sie versuchte, freizukommen. Aber es war sinnlos. Wie aus Eisen war die Schlingpflanze, die ihr nun die Luft abschnürte.
Und damit nicht genug. Weitere Geflechte drangen aus dem porösen Boden ans Tageslicht, schoben sich auch zwischen den Grassoden empor, die von den Ziegen friedlich abgefressen wurden.
Sie umschlangen die Beine des Mädchens, ihre Hüften, ihre Arme. Entsetzt musste Madu mitansehen, wie das Blut aus ihrer Haut quoll.
Sie riss den Mund auf. Doch die Schlingpflanze drückte unerbittlich ihre Kehle zu. Madu konnte nicht schreien. Niemand war in der Nähe, um ihr zu helfen. Nur die Ziegen schauten entsetzt zu, wie ihre Hirtin von der unerbittlichen Schlingpflanze erdrückt wurde.
Instinktiv witterten die Tiere jene böse Macht, von der das Geflecht vorwärts getrieben wurde.
Die Ranken entwickelten immer neue Triebe. Tief drangen sie in Madus Fleisch. Der Widerstand des Mädchens erlahmte. Das Entsetzen war einfach übermächtig.
Bald darauf wurde sie durch eine Ohnmacht von ihren Schmerzen erlöst. Sie bekam nicht mehr mit, wie die Schlingpflanzen ihr sämtliche Knochen im Leib brachen und sie schließlich töteten.
***
Die Tatkas hatten von einer anderen Bewusstseinsebene aus Madus Todeskampf schweigend verfolgt.
Das qualvolle Ende eines sterblichen Menschen
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