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0720 - Teufelsnächte

0720 - Teufelsnächte

Titel: 0720 - Teufelsnächte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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versunken in der Vergangenheit. Die Worte seiner Schwester rissen ihn in ein tiefes Loch, brachten ihn zurück zu dem Tag, als vier Männer die Tür der kleinen Mietwohnung in einer Stadt, die damals noch Leningrad hieß, eintraten und ihn und seine Schwester mitnahmen. Die letzte Erinnerung an seine Mutter war die einer schreienden Frau mit zerzausten Haaren, die auf dem Boden kniete.
    Er nahm an, dass einer der Nachbarn sie denunziert hatte. Vielleicht hatte einer ein schwebendes Mädchen hinter den Fenstern gesehen oder einen Topf, dessen Deckel sich wie von selbst hob. Seine Eltern hatten sie ermahnt, niemandem ihre Fähigkeiten zu zeigen, aber sie waren noch Kinder gewesen und hatten den Grund nicht verstanden.
    Der Bruder dachte an die Jahre danach, an die endlosen Tests und Versuche in einer unterirdischen Forschungsanlage in Sibirien. Man hatte sie wie Gefangene in Einzelhaft gehalten und sie nur zusammengebracht, wenn ihre Kräfte getestet werden sollten. Damals hatte er erfahren, dass nicht nur das Ausmaß ihrer Fähigkeiten weit über dem anderer Telekineten lag, sondern dass sie einzigartig waren, weil sie nur gemeinsam funktionierten.
    Fünf Jahre lang hatten die Wissenschaftler nach dem Grund dafür geforscht, bis sie schließlich entdeckten, dass seine Schwester zwar die Kraft hatte, aber sie ohne einen Katalysator nicht einsetzen konnte - und dieser Katalysator war er.
    Seine Gedanken wandten sich unweigerlich dem Tag zu, an dem seine Schwester den Verstand verlor. Er wusste bis heute nicht, was geschehen war, als sie an diesem Morgen bleich und zitternd in den Versuchsraum stolperte, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er wusste nur, dass es sofort begonnen hatte, eine Energie, die seinen Körper wie ein Stromstoß durchfuhr, ihn zu Boden warf und weißen Schaum von seinen Lippen sprühen ließ. Stundenlang hatte er unter diesen Krämpfen gelitten, war unfähig gewesen, eine kontrollierte Bewegung zu machen, oder zu begreifen, was um ihn herum geschah.
    Als die Krämpfe schließlich nachließen, lag seine Schwester bewusstlos neben ihm. Die Glühbirnen und Spiegel in dem Versuchsraum waren geplatzt, die Stühle zerbrochen. Vier tote Wissenschaftler und zwei Soldaten lagen mit zertrümmerten Schädeln rund um die offene Tür verteilt, als hätten sie noch zu fliehen versucht.
    In der Anlage war es still, totenstill, wie der Bruder erkannt hatte, als er mit seiner Schwester auf den Armen den Raum verließ.
    Alle waren tot.
    Die Wissenschaftler, die Verwaltungsbeamten, die Soldaten, die anderen Telekineten, Telepathen und Teleporter, jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jedes Tier, war dem Schlag zum Opfer gefallen.
    Der Bruder hatte den Eindruck gehabt, durch eine riesige Leichenhalle zu gehen, als er mit seiner Schwester die Anlage verließ und zuerst Sibirien und dann der Sowjetunion den Rücken kehrte.
    Gemeinsam waren sie nach England geflohen und hatten dort eher zufällig die Bekanntschaft einiger Teufelsanbeter gemacht. Er wusste nicht mehr, ob er oder seine Schwester schließlich auf die Idee gekommen waren, sich mit Hilfe ihrer Fähigkeiten als Sendboten Satans auszugeben, aber es war ihnen gelungen. Innerhalb eines Jahres hatten sie überall im Norden Englands kleine Gruppen gegründet. Die meisten setzten sich aus Versagern zusammen, die kaum in der Lage waren, ein paar Pfund zusammenzukratzen, aber die Gruppe in Manchester hatte all ihre Erwartungen übertroffen. Angespornt von der Drohung, die er als Lugosi darstellte, waren fast alle in wohlhabende Positionen gelangt und wenn alles gut ging, wurden er und seine Schwester beim heutigen Ritual um eine halbe Millionen Pfund reicher.
    Das einzige, was er wirklich bedauerte, war Kenneth, der damals bei der ersten Machtdemonstration so unglücklich auf einen Grabstein gefallen war. Vielleicht würde er ihm etwas von dem Geld abgeben.
    »Ist der Parapsychologe hier aufgetaucht?«, riss ihn die Stimme seiner Schwester aus seinen Gedanken.
    Schuldbewusst sah er zum Polizeirevier, das er eigentlich hätte beobachten sollen.
    »Ich habe ihn nicht gesehen.«
    In ihrem Blick flackerte es. Er glaubte, darin die Risse zu erkennen, die sich durch ihren Geist zogen, bereit, ihn bei der geringsten Berührung auseinanderbrechen zu lassen.
    Tu mir das nicht an, dachte er mit einer plötzlichen Verzweiflung, bitte tu mir das nicht noch einmal an.
    ***
    Timble stoppte nur einmal, um sich eine Flasche Whisky zu kaufen, die er neben sich auf den Beifahrersitz

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