0739 - Varneys Rache
Dorfschullehrer. Vor vielen Jahren wenigstens. Bevor das ›Genie der Karpaten‹«, - Zamorra wusste, dass dies einer der unzähligen Titel war, mit denen sich Ceauçescu selbst beweihräuchert hatte - »der Meinung war, dass sein kommunistisches Arbeiter- und Bauernparadies auch ohne meine Hilfe auskommt.«
Der alte Mann kicherte, aber es klang freudlos und bitter.
»Danach arbeitete ich auf dem Hof der Familie meiner Frau, einer Sächsin. Jetzt lebe ich allein dort und verkaufe ein bisschen Obst und Gemüse. Ich habe keine Karriere gemacht - im Gegensatz zu anderen in diesem Dorf.«
Zamorra beobachtete, dass der Wirt und seine Gäste misstrauisch zu ihnen herüberblickten. Die neue Entwicklung gefiel ihnen offenbar gar nicht. Der alten Mann schien die finsteren Gesichter seiner Nachbarn gar nicht zu bemerken. Zamorra bewunderte seinen Mut. Wer sich in so einem kleinen Dorf gegen die Gemeinschaft stellte, musste einiges an Druck aushalten können. Aber offensichtlich hatte Bogdan damit Erfahrung.
Der alte Mann leerte sein Glas mit einem letzten, tiefen Zug. Zamorra wandte sich dem Wirt zu und formte mit den Fingern die Zahl drei. Dabei machte er das grimmigste Gesicht, das er zu Stande brachte, und tatsächlich setzte sich der Schmerbauch sofort in Bewegung. Vielleicht auch nur, weil er mitbekommen wollte, was am Tisch gesprochen wurde.
Sie taten ihm den Gefallen nicht. Erst als sich der Wirt betont langsam wieder zurückgezogen hatte, beugte sich Bogdan vor, und sagte leise: »Dieses Dorf hat Schuld auf sich geladen. Und jetzt will davon niemand mehr etwas wissen.«
»Was für eine Schuld?«, fragte Nicole.
»Sie haben Varney und seine Horde verraten. Nachdem das Dorf durch ihn zu Wohlstand gekommen war.«
»Wer ist Varney?«, unterbrach Zamorra.
»Varney ist ein Vampir«, sagte Bogdan so gleichmütig, als spreche er über das Wetter. Er sah Zamorra und Nicole eindringlich an. »Sie wissen, wovon ich rede. Sie sind anders als diese bornierten Holzköpfe aus der Stadt. Sie wissen, dass es in dieser Welt Dinge gibt, die mit Logik und Vernunft nicht zu erklären sind. Ich habe Sie beobachtet, in der Burg.«
»Ja, wir wissen, wovon Sie reden«, sagte Nicole. Zamorra nickte nur. Er wollte den Redefluss des Greises nicht unterbrechen.
»Es war zu Beginn dieses Jahrhunderts, als Varney und seine Horde zu uns kamen«, fuhr Bogdan fort. »Es war kein Überfall. Sie waren - unsere Freunde…«
»Freunde?«, fragte Nicole irritiert. Auch Zamorra hatte so etwas noch nie gehört. Die Geschichte bekam plötzlich eine gänzlich unerwartete Wendung.
»Sie kamen aus den großen europäischen Städten. Eine kleine Gruppe, knapp ein Dutzend Männer und Frauen. Sie hatten dort in der Welt der Künstler gelebt, der Boheme. Paris, London, Berlin, Zürich. Wie moderne Nomaden zogen sie weiter, wenn es ihnen zu langweilig wurde. Aber sie waren keine blutrünstigen Bestien. Die Künstler liebten und respektierten sie für ihre Andersartigkeit.«
Zamorra glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.
»Varney erzählte uns oft von Toulouse-Lautrec, dem der Absinth fast den Verstand geraubt hatte, von Oscar Wilde, und natürlich von Lord Byron, Percy Shelley und seiner Verlobten Mary Wollstonecraft, mit denen er auch das legendäre Wochenende am Genfer See verbrachte. Das eine, an dem Mary ihre berühmteste Figur erfand, Frankenstein.«
Zamorra und Nicole starten den alten Mann entgeistert an.
Bogdan kicherte. »Sie fragen sich, woher ein greiser transsilvanischer Bauer solche Dinge weiß? Nun, wie gesagt, ich war Dorfschullehrer. Ich habe studiert. Und ich habe sehr viel gelesen über diese Zeit.«
Er trank sein Bier aus. Nicole bestellte drei neue.
»An diesem Wochenende entstand noch eine Geschichte«, fuhr der alte Mann fort. »Die Grundidee stammt von Byron. Sein Arzt John William Polidori machte später eine Novelle daraus.«
»Sie meinen ›Der Vampyr‹«, fragte Nicole. Zamorra kannte das Buch ebenfalls. Literarisch war es nicht gerade von großem Wert. Aber es war das erste Werk, in dem der Vampir, Lord Ruthwen, kein blutsaufendes Monster war, sondern ein charismatischer Aristokrat. Und damit ein direkter Vorläufer von Bram Stokers »Dracula«.
»Varney fand das Machwerk nicht gerade schmeichelhaft. Und dann kam auch noch James Malcolm Rymer. Er klaute Polidoris Idee für eine Groschenromanserie und benutzte für diesen Schund sogar Varneys echten Namen.«
»Varney the Vampyre«, erinnerte sich Zamorra. Ihm war der
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