074 - Der Sohn des Zyklopen
mir."
„Nein!" Chapman schlug wütend um sich, doch Dorian ließ ihn nicht los. „Dula ist in den Wald gelaufen. In ihrem Zustand ist sie völlig hilflos. Wer weiß, was aus ihr wird, wenn ich ihr nicht beistehe. Du mußt mich gehen lassen."
„Kommt nicht in Frage!", erklärte Dorian und erhob sich.
Er blickte um sich. Der Scheiterhaufen war noch immer vorhanden. Doch von Eiztari Beltza war nichts zu sehen. Über das Tal hatte sich Stille gesenkt. Eine unheimliche Stille. Aus dem Sternenhimmel zuckten keine Blitze mehr. Die Luft war kühl und frisch. Die unnatürliche Schwüle war wie weggeblasen. Das magische Feuer brannte nicht mehr. Nur zwischen den Ruinen der Häuser schwelte noch die Glut.
Dunkle Gestalten standen untätig herum. Ihre Verwirrung schien größer als ihre Angst. Aber irgendwann würden sie sich daran erinnern, warum sie sich eigentlich hier zusammengefunden hatten. Sie würden sich auch erinnern, daß der Zyklopenjunge noch am Leben war, den sie für den Urheber all dieser Schrecken hielten. Und sie würden nach ihm suchen.
„Wir müssen in den Keller zurück", beschloß Dorian. „Und du bleibst bei mir, Don. Überlege dir erst einmal alles in Ruhe, dann können wir weitersehen."
Den Puppenmann sicher im Griff, machte er sich auf den Weg zum Luftschacht, um in den Keller zurückzukehren.
Doch auf halbem Wege rief Chapman plötzlich: „Da ist Tirso!"
Dorian wirbelte herum. Er traute seinen Augen nicht, als er den Zyklopenjungen aus dem Haus treten sah. Er wirkte verändert. Seine Bewegungen waren unnatürlich, irgendwie abgehackt und ungelenk. Seine einstmals glatte Haut war runzelig, die Stelle über der Nasenwurzel, wo sich sein Auge befunden hatte, war nur noch eine blutige Masse.
„Tirso!"
Dorian wollte zu ihm eilen, doch da hatten die Sektierer den Zyklopenjungen bereits entdeckt. Die Starre fiel augenblicklich von ihnen ab. Zuerst erhob sich nur ein wütendes Gemurre, das jedoch immer lauter wurde und schließlich zu einem wüstem Geschrei anschwoll.
Dorian konnte nicht mehr eingreifen. Er mußte hilflos zusehen, wie sich die Menge auf Tirso stürzte und ihn zum Scheiterhaufen schleppte. Kurz darauf züngelten bereits die ersten Flammen empor. „Du nimmst es ziemlich gefaßt hin", meinte Chapman.
„Ich weiß nicht..." Dorian starrte stirnrunzelnd auf den brennenden Scheiterhaufen. „Irgend etwas hat mit Tirso nicht gestimmt. Wir werden es gleich erfahren."
Dorian setzte seinen Weg fort. Aber wieder kam es zu einem Zwischenfall, bevor er den Luftschacht erreichte.
„Hört, Männer, was euch der Schwarze Jäger zu sagen hat!" erscholl vom Dach des Hauses der Aranaz' eine laute Stimme.
Als Dorian sich umdrehte, sah er Eiztari Beltza auf dem Giebel stehen.
Er fuhr fort: „Wir haben unser Tal von einem furchtbaren Dämon befreit, aber mich kann dieser Sieg nicht freuen, denn es war nicht mein Sieg. Ich habe nicht immer richtig gehandelt und gestehe meine Verfehlungen vor euch allen ein. Ich bin nicht den richtigen Weg gegangen und habe das Erbe unserer Väter schlecht verwaltet. Ich habe ihre große Religion in den Schmutz gezerrt. Mit dieser Schuld kann ich nicht leben. Wenn je wieder einer kommt, der die Tradition unserer Religion weiterführen will, dann soll er es besser machen. Ich verabschiede mich von euch und vertraue mich Illargui an."
Er machte einen Schritt ins Leere und fiel mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe.
Dorian Hunters Schlußbemerkung zur baskischen Religion.
Vom Ende des baskischen Heidentums weiß die Legende zu berichten, daß ein Weiser den spärlichen Rest der Gläubigen um sich geschart hatte, um den Siegeszug des Christentums mit einer Trauerfeier zu begehen. Am Schluß des Zeremoniells stellte er sich auf eine Klippe und sagte: „Meine Kinder, unser Volk ist nicht mehr. Stürzt mich von hier in Illarguis Arme!"
Seine Anhänger erfüllten seinen letzten Willen.
Und Eiztari Beltza hatte diese Legende nachvollzogen.
Als Dorian ins Kellergewölbe kam, stellte er zuerst fest, daß Tortos Leiche verschwunden war. Er ahnte, was das zu bedeuten hatte. Und als er dann ins Kinderzimmer kam und Tirso bei seinen Eltern sah, wußte er Bescheid.
Aber Tirso hatte sich gewandelt. Er war nicht nur um gut einen Kopf größer als zuvor, sondern wirkte auch reifer - älter. Dieser körperliche und geistige Wandel überraschte selbst den Dämonenkiller. Aber er konnte Tirsos Metamorphose verkraften, nahm sie einfach als gegebene Tatsache hin - wie er
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