0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
veränderst. Und das hast du getan, glaub mir. Du mußt dich mal ansehen. Du siehst irgendwie verstört aus, und ich kann mir auch denken, daß es mit Franca Simonis zusammenhängt.«
»Warum das denn?«
»Mit wem sonst?« fragte sie zurück.
»Nein, nein, ich bin okay. Ich habe mich nur gewundert, daß sie so plötzlich hier war.«
Jessica drohte mit dem Finger. »Sie verfolgt uns eben und nimmt keine Rücksicht darauf, daß ich dabei bin.«
»Man kann es auch anders sehen.«
»Und wie, bitte?«
»Es zeigt wiederum, daß sie keine bestimmten Absichten hat, die du ihr möglicherweise unterstellst.«
Sie überlegte und strich ihr Haar zurück. Ihre Haut war schon leicht von der Sonne gebräunt, und die vollen Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen. »Diese Antwort hätte ich auch gegeben, wenn ich ein Mann gewesen wäre.«
Ich breitete die Arme aus. »Himmel, Jessica, stell dich nicht an wie ein Teenager. Nimm sie doch einfach hin. Alles andere solltest du verdrängen, sonst könnten die restlichen Tage verdammt ärgerlich werden. Dann hast du nichts von deinem Urlaub.«
Sie schaute mich an und überlegte. Dann nickte sie. »Ja, vielleicht hast du recht, John. Ich habe mich benommen wie eine dumme Gans. Wenn ich sie sehe, bin ich ganz locker, das verspreche ich dir. Außerdem sind wir beide nicht verheiratet.«
»Das hat doch damit nichts zu tun.«
»Laß uns gehen.« Sie faßte wieder nach meinem Arm und zog mich kurzerhand weiter.
Ob sie es ganz ernst gemeint hatte, wußte ich nicht. Es war möglich, doch so genau kannte ich Jessica Long nun auch wieder nicht.
Um einem ähnlichen Vorfall wie diesem »Skiunfall« zu entgehen, zog ich Jessica quer über den See in eine Region hin, wo sich keine Langläufer aufhielten.
Sie war voll und ganz damit einverstanden.
Jessica hatte viel von ihrer Fröhlichkeit verloren. Franca Simonis schien ihr noch immer im Magen zu liegen.
Mir lag der Zettel im Magen.
Ich ging davon aus, daß diese Warnung ernst zu nehmen war. Franca hatte sie mir zugesteckt. Nun stellte sich die Frage, weshalb sie das getan hatte. Was war der Grund dafür? Hatte sie etwas bemerkt? Eine Gefahr vielleicht? Wenn ja, dann mußte sie auch wissen, wer ich war und womit ich meine Brötchen verdiente. Ich aber kannte sie nicht. Sie war mir in Pontresina zum erstenmal begegnet und schien voll informiert zu sein.
Was steckte dahinter?
Ich hatte vorgehabt, mal eine Woche Urlaub zu machen, richtig auszuspannen und nicht an irgendwelche Dämonen oder Schwarzblütler zu denken. Jetzt hatte mich der Job wieder, und ich stellte mir die Frage, wie mir in dieser herrlichen Gegend und an einem derart traumhaften Tag eine Gefahr drohen konnte?
Das war selbst für mich schwer nachzuvollziehen.
Allerdings beschloß ich, die Augen offenzuhalten und nicht mehr so locker in den Tag hineinzuleben. Ich hatte unbewußt meine Schritte verlangsamt. Da Jessica ihr Tempo beibehalten hatte, ging sie ein Stück vor mir. Ich schaute auf ihren Rücken, wo sich die Falten des blauen Anoraks wie kleine Wellen bewegten. Von ihrem Kopf war wegen der hochgezogenen Kapuze nicht viel zu sehen. Nur an den Rändern faserte der Pelz auseinander.
Wir waren dem Ufer schon relativ nahe gekommen. An der linken Seite wuchsen Büsche, die nicht mehr grün aussahen, sondern durch Eis und Schnee wie starre Gebilde wirkten, die ein Bildhauer kurzerhand in die Gegend gestellt hatte.
Da rutschte Jessica aus.
Ich hörte noch ihren Schrei und sah sie auch tanzen. Im nächsten Moment fiel sie hin.
Ich wollte zu ihr.
Tat den ersten Schritt!
Da knackte es unter meinem rechten Fuß.
Das Geräusch gellte in meinem Schädel wie ein schrilles Alarmsignal. Ich wollte mich noch nach hinten werfen, dazu allerdings war es zu spät, denn nicht nur in der unmittelbaren Umgebung meines Fußes gab das Eis nach, auch ein Stück entfernt, und plötzlich brach es weg wie dünnes Glas.
Und ich fiel in den See!
***
Elohim saß auf der Kante des unteren Betts und wagte nicht, sich zu rühren. Er hatte seine Hände nicht angehoben, aus großen Augen schaute er in die Mündung des Schalldämpfers und erwartete jeden Moment, von einer Kugel getroffen zu werden.
Der Mann schoß nicht.
Er ließ sich Zeit und schaute Elohim sehr, genau an. Seine Augen waren dunkel. Nicht die Spur seiner Gedanken spiegelten sich darin, zudem sagte er kein Wort.
Der Junge konnte ihn jetzt besser sehen. Der Mann war sehr groß und in den Schultern schmaler, als Elohim
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