0744 - Die Verwandlung
behalten, dieser Fall war noch längst nicht beendet.
Ich stieg die wenigen Stufen der Treppe hoch und sah dicht vor mir die Rückwand des Hotels. Sie wirkte wie eine gewellte, düstere Mauer und kam mir feindlich vor.
Ich dachte an zwei Frauen.
Einmal an Jessica Long und auch an Franca Simonis, die ich hoffentlich in ihrem Zimmer fand.
Natürlich spukte auch Dagmar durch meinen Kopf. Ich glaubte einfach nicht daran, daß sie geflohen war und alles im Stich gelassen hatte.
Bevor ich das Hotel durch einen Nebeneingang betrat, schaute ich zurück.
Die Menschen umstanden den Jungen im Viereck. Ich konzentrierte mich auf ihre Gesichter. Sie sahen sehr bleich aus. Der Vergleich mit in der Luft schwebenden Fettflecken kam mir in den Sinn, aber ich wußte, daß ich mir grundlos Sorgen gemacht hatte.
Die Gesichter waren normal. Ich sah hinter ihnen keine Schreckensfratzen, die sie als Kreaturen der Finsternis identifiziert hätten. Sie waren nur Mitläufer gewesen, Verblendete, die später möglicherweise zu dem hätten werden sollen, als was ich sie schon jetzt angesehen hatte.
Ich betrat das Hotel, kam dabei hinein in die Stille, die mich umklammerte.
Nichts war zu hören.
Keine Schritte, keine Stimmen, der große Kasten schien von allen verlassen zu sein.
Ein Schauer strich über meinen Körper. Irgendwie war mir unheimlich zumute, als ich über den Teppich schritt und mich dem langen Quergang näherte.
Auch dort befand sich kein Mensch.
Wo hielt sich Dagmar verborgen? Ich wollte noch immer nicht daran glauben, daß sie einfach geflohen war.
Langsam und sehr wachsam schritt ich weiter, wobei ich mich der Bar näherte, denn dort leuchtete ein einsames Licht. Nach kurzer Zeit stand ich im offenen Zugang, und mein Blick fiel quer durch die Bar dorthin, wo sich die polierte Theke aus Holz und Marmor befand.
An ihrem Ende leuchtete die einsame Lampe. Ihr Schein reichte so weit, um mich die Frau erkennen zu lassen, die auf dem Barhocker saß und trank.
Sie hob die Hand mit dem Drink. »Willkommen in der Wirklichkeit, John Sinclair«, sagte Jessica.
***
Es tat gut, ihre Stimme zu hören. Sie klang mir als weiches Echo entgegen. Dennoch wirkte Jessica Long auf mich wie ein Traumbild, das aus einer für mich längst verlorengegangenen Welt kurzerhand herausgeschnitten worden war.
Die Lampe gab ein weiches Licht ab. Es fiel als Aura auf ihr rötlichblondes Haar und übermalte die Flut mit kleinen, schimmernden Reflexen, die noch zunahmen, wenn Jessica ihren Kopf bewegte oder das Haar nach hinten drückte.
Sie trank einen trockenen Martini und fragte, als ich neben ihr Platz genommen hatte, welchen Drink ich wollte.
»Ist mir egal.«
»Champagner dem Sieger, John? So sagt man doch, wenn ich mich nicht irre.«
»Das stimmt.«
»Dann also Champagner.« Sie wollte vom Hocker rutschen, spürte meine Hand auf ihrem Arm und blieb sitzen.
»Nur für den Sieger, Jessica.«
Sie hob ihre Augenbrauen und zeigte mir einen erstaunten Gesichtsausdruck. »Sollte ich mich geirrt haben? Bist du denn nicht der Sieger? Hast du verloren?«
Ich stützte die Ellenbogen auf den Handlauf. »Wenn wir schon bei Sieg oder Niederlage bleiben, dann würde ich sagen, daß ich ein Unentschieden erreicht habe.«
»Also Martini?«
»Gib mir ein Bier. Oder warte, ich hole es mir selbst.« Ich hatte Durst und konnte zwischen Flaschenbier und einem vom Faß wählen. Ich entschied mich für das vom Faß. Hinter der Theke zapfte ich es mir selbst, trank das erste Glas auf Ex und kehrte mit dem zweiten zu meinem Platz und zu Jessica zurück.
Ich ging dabei sehr langsam und verglich mich selbst mit einem Menschen, der noch zu tun hatte, um mit sich ins reine zu kommen. Das merkte auch Jessica.
Als ich mich setzte, sagte sie: »Du wirkst deprimiert, John.«
»Da kannst du recht haben.«
»Warum?«
»Tja, warum?« Ich hob die Hände und ließ sie einen Moment später wieder fallen. »Ich habe gewonnen und trotzdem keinen vollen Sieg errungen. So sieht es aus.«
»Das geht dir gegen den Strich, John. Dazu kenne ich dich einfach zu gut.«
»Stimmt.«
»Willst du reden?«
Ich schaute sie an und lächelte etwas verklemmt. »Andere Frage. Möchtest du denn etwas hören?«
»Sicher. Außerdem meine ich, daß ich irgendwie ein Recht darauf habe. Findest du nicht auch?«
»Das kann schon sein.«
»Dann bitte.«
Ich trank einen Schluck Bier. Im Hotel blieb es still. Auch die Gäste verließen die Eisbahn nicht, was mich wiederum wunderte,
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