0757 - Das Reich der Großen Schlange
sein.
Der junge Bahnbeamte wusste nicht, wie er die Frage seines Vorgesetzten beantworten sollte. Falls es überhaupt eine ernsthafte Frage gewesen war. Doch schon im nächsten Moment erledigte sich das Thema von selbst.
Denn nun wurde die Aufmerksamkeit der beiden Männer durch einen Zug beansprucht!
Er kam aus Richtung Westen.
»Beim Barte von Katharina der Großen«, murmelte Masdin. »Ein Sonderzug! Wieso weiß ich nichts davon? Ist uns ein Sonderzug telegrafisch angekündigt worden, Igor?«
»N… nein, Herr Stationsvorsteher.«
Da war sich der junge Bahnbeamte sicher. Er hatte schließlich die ganze Nacht vor dem Telegrafen gedöst. Und seit die Explosionen geschehen waren, hatte er das Telegrafengerät ebenfalls kaum aus den Augen gelassen. Aber es kam keine Nachricht. Nichts.
»Na«, brummte Masdin, »wir werden wohl gleich erfahren, was es mit diesem Sonderzug auf sich hat! Wenigstens hat er eine russische Lokomotive. Und keine japanische…«
Roloff erschrak. Obwohl er eine Waffe in den Händen hielt, hatte er nicht ernsthaft daran gedacht, selbst gegen die Feinde aus dem Osten kämpfen zu müssen. Es war mehr ein Reflex gewesen, der ihn zum Gewehr greifen ließ.
Umso größer war Roloffs Erleichterung, als die Heißdampf-Lokomotive mit den vier Wagen nun abbremste und an der Station Renumska zum Stehen kam.
Die ersten beiden Wagons waren für Passagiere. Durch die Fenster konnte Roloff ganz eindeutig die bärtigen Gesichter mit den typischen Pelzmützen sehen.
Kosaken!
Nein, diese wilden Krieger und knallharten Kämpfer waren ganz gewiss keine Japaner! Im Gegenteil, sie würden die Truppen des Tenno, des japanischen Kaisers, richtig das Fürchten lehren!
Und weil ein Kosak ohne Pferd bekanntlich kein richtiger Kosak ist, führten sie in den beiden übrigen Wagons ihre struppigen Taiga-Pferde mit sich.
Kaum war der Zug zum Halten gebracht, als die Kosaken die Türen aufrissen und unter mächtigem Gebrüll auf den Bahnsteig stürmten. Sie legten Rampen an die beiden Viehtransportwagen und führten ihre Reittiere am Zügel aus den Wagons. Dann saßen die Männer auf. Einer von ihnen, offenbar der Hetman [4] , präsentierte seinen Säbel vor dem bärtigen Gesicht.
Und erst nachdem die Kosaken angetreten waren wie zur Truppenparade, verließ ein anderer Mann den Sonderzug.
Er war kein Kosak.
Vielmehr war er förmlich und korrekt gekleidet, mit Frack, Zylinder, gestreiften Hosen und Gamaschen. Ein Mann, den man eher im Zaren-Palast von St. Petersburg als auf einer öden Bahnstation im äußersten Osten des russischen Riesenreiches vermutet hätte.
Die Pupillen des eleganten Herrn waren schwefelgelb.
Höllenaugen, dachte Roloff spontan und erschauerte. Er hielt sich an seiner Flinte fest wie an einem Strohhalm.
Doch der Stationsvorsteher ließ sich von dem Auftritt des Fremden nicht beeindrucken.
»Guten Morgen, die Herren!«, sagte Wladimir Masdin und rückte die Bahnbeamten-Schirmmütze auf seinem Schädel möglichst gerade. »Ich weiß nicht, was mir das Vergnügen verschafft. Aber ich muss euer Hochwohlgeboren darauf hinweisen, dass eine Benutzung des Gleiskörpers für Sonderzüge nur mit Genehmigung des Zentralbüros der Transsibirischen Eisenba… Aaaaah!«
Plötzlich ging alles ganz schnell. Noch bevor der Stationsvorsteher aussprechen konnte, hatte der elegante Herr zweien seiner Kosaken einen kleinen Wink gegeben.
Die bärtigen Kerle mit den Fellmützen drängten ihre Ponys links und rechts neben den Bahnbeamten und nahmen Masdin in die Mitte. Die Kosaken sprangen aus den Sätteln, packten ihr Opfer und verdrehten ihm schmerzhaft die Arme auf dem Rücken.
Der Herr mit Zylinder und Gamaschen trat auf den Stationsvorsteher zu, zog seine Kalbslederhandschuhe aus und schlug dem Bahnbeamten damit ins Gesicht.
»Mein Name ist Pjotr Kuslow, und ich erwarte bedingungslosen Gehorsam. Ist das klar?«
Masdin schlotterte vor Angst. Er war kein Held, obwohl er den Krieg gegen Japan überlebt hatte. Gerade die Schlachten der Jahre 1904 und 1905 hatten ihm gezeigt, wozu Menschen fähig waren…
»J… jawohl, Euer Gnaden!«, sagte der Stationsvorsteher und verbeugte sich, soweit die beiden Kosaken, die ihn festhielten, es zuließen.
Ein Schmerzensschrei ertönte. Zwei weitere Soldaten hatten vorsichtshalber den jüngeren Bahnbeamten entwaffnet. Nun lag Roloff leblos auf dem Bahnsteig, mit einer blutenden Wunde am Kopf. Einer der Kosaken lachte höhnisch. Er hatte seinem Opfer den Kolben des
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