0760 - Chaos in der Koboldwelt
Nikolajewitsch schaute skeptisch drein. »Da muss ich meine Frau fragen.« Mit diesen Worten schloss er die Tür.
Saranow stand wie auf glühenden Kohlen.
Nach einer Zeit, die ihm endlos erschien, kehrte sein Nachbar zurück. Diesmal öffnete er die Tür nur einen Spalt und ließ die Sperrkette vorgelegt.
»Larissa sagt, du sollst in die Psychiatrie gehen«, teilte er dem Parapsychologen mit. »Wir könnten dir einen Krankenwagen rufen.«
Wüst fluchend rannte Saranow zur Treppe und trampelte die Stufen hinunter.
Er hörte nicht mehr, wie die Frau seines Nachbarn zu diesem sagte: »Lass ihn nur nicht in die Wohnung, Semjon.«
»Keine Sorge, mein Täubchen.«
Die Antwort bekam Saranow ebenfalls nicht mit. Er stürmte aus dem Haus, stellte sich auf die Straße und hielt das nächstbeste Auto an, einen Moskwitsch älteren Baujahrs.
Der Fahrer blickte ihn verwirrt an. »Was ist los, Brüderchen? Du bist ja ganz aufgelöst.«
Das war schon der Zweite, der das zu dem Parapsychologen sagte.
»Sie müssen mich fahren«, stieß Saranow hervor. »Es ist dringend. Dort um die Ecke, ich bezahle die Fahrt.« Er wedelte mit einem Bündel aus Rubelscheinen. »Wir müssen hinter ihr her.«
»Hinter wem? Ist dir dein Frauchen weggelaufen? Hast du sie etwa verprügelt?«
»NEIN. Es ist eine andere.«
»Verstehe. Deine Geliebte.«
»Ja«, erwiderte Saranow, damit er seine Ruhe hatte. »Jetzt fahr mich, um Gotteswillen.«
Er durfte einsteigen und lotste den Fahrer, einen jüngeren Mann, westlich gekleidet, über die Bahnlinie und die Uliza Soldatskaja zum Kultur- und Erholungspark für Moskauer Offiziere. Der Spur der Einhornreiterin war leicht zu folgen.
Es hatte Auffahrunfälle und Blechschäden gegeben. Ein Bus, der von einem Mercedes Diesel gerammt worden war, blockierte eine Kreuzung. Saranows Fahrer quetschte sich mit Mühe an dem Bus vorbei.
»Was ist da passiert?«, fragte er. »Wen verfolgen wir da?«
»Ewa«, antwortete Saranow einsilbig.
Der Fahrer blickte ihn an, stellte jedoch keine Frage, obwohl sie ihm ins Gesicht geschrieben stand: Was ist los mit dieser Ewa?
Die Einhornreiterin hatte inzwischen den Park der Offiziere passiert. Nach dem Gewitter hatten sich dort bereits wieder einige Spaziergänger und Freizeitler eingefunden. Veteranen mit dem Bändchen der Roten Armee am Revers schauten perplex auf das Einhorn und die kindliche Schönheit im Fantasy-Look.
»Westliche Dekadenz!«, schimpfte einer. »Bestimmt ist das eine Filmreklame. Zu Sowjetzeiten hätte man das nicht zugelassen.«
Eva - auf Russisch Ewa - ritt weiter. Sie war völlig verwirrt, da sie sich in einer ihr völlig unbekannten Umgebung wiedergefunden hatte. Sie erinnerte sich an nichts mehr, auch nicht daran, dass sie schon einmal in Moskau gewesen war.
Sie wusste nicht, wer sie war, wo sie herkam, was sie hier wollte und sollte. Ihr Einhorn, das auch keinen Namen hatte, trug sie.
Niemand näherte sich ihnen, keiner versuchte zunächst, sie aufzuhalten. Mit traumhafter Sicherheit trug das schneeweiße Einhorn Eva durch den Park und am Kursker Bahnhof vorbei bis zum Noginplatz.
Bis zum Krasnaja Ploschtschad, dem Roten Platz und der Kremlmauer, war es jetzt nicht mehr weit. Der Hufschlag des Einhorns klapperte auf dem Asphalt. Die kindliche Reiterin hielt sich an der Mähne fest - sie ritt ohne Sattel und saß wie angegossen auf dem Einhorn. Mit großen Kinderaugen blickte sie sich um.
Das Einhorn trabte ein wenig umher.
Beim Kaufhaus Gum hielt Eva kurz vor den Schaufenstern und schaute sich zuerst die Sommermode und anschließend Spielzeuge an. Noch immer näherte sich ihr niemand. Etwas hielt die Gaffer zurück. Weitere Autos hatten gestoppt oder stoppten gerade, und eine Straßenbahn bimmelte, weil Eva den Weg blockierte. Ein paar Jugendliche, die von einer Metrostation kamen, rotteten sich zusammen und stellten sich Eva in den Weg, als sie weiterritt.
»Tolles Outfit!«, rief einer von ihnen.
Ein langhaariger, zottiger Bursche wollte Eva packen und vom Einhorn zerren. Doch da erhielt er einen gewaltigen Schlag wie eine elektrische Entladung, die ihn zurückschleuderte.
Eva hatte unbewusst ihre Para-Kräfte eingesetzt. Jetzt hatte keiner mehr den Wunsch, sie anzufassen. Im Gegenteil, die Leute wichen ihr aus. Das Mädchen ritt weiter. Die Straße war noch nass nach dem Gewitterregen, und an vielen Stellen standen Pfützen und Wasserlachen.
Eva schaute zu dem Regenbogen, der über Moskau glänzte. Etwas zog sie zu ihm hin.
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