0760 - Chaos in der Koboldwelt
Eimer Wasser über den Kopf«, sagte der Parapsychologe.
»Nein, du verstehst mich falsch. Er hat einen Vollbart aus lauter Flammen. Das muss ein Dämon sein. Ein riesiger, grimmiger Bursche. Zudem ist mit seiner rechten Hand etwas nicht in Ordnung. Mal ist sie da, dann ist sie wieder verschwunden.«
»Verstehe…«
***
Der Moskwitsch holte auf. Noch vor der Kremlmauer sahen Saranow und sein Fahrer die Reiterin mit dem Einhorn, die aus der schmalen Chrustalnyi-Straße auf den Roten Platz trabte. Gaffer starrten sie an, als sie an Touristenbussen vorbeiritt.
Der Fahrer stoppte seine Rostlaube von Moskwitsch.
»Was ist das?«, fragte er.
»Lassen Sie mich aussteigen!«, rief Saranow. »Die suche ich.«
Es war klar, dass er die Einhornreiterin meinte.
»Das Kind ist Ihre Geliebte?«, fragte der junge Fahrer. »Sie Wüstling!«
Der Parapsychologe drückte ihm ein paar Rubelscheine in die Hand, stieg aus und lief quer über den Roten Platz, der für Fahrzeuge gesperrt war.
»Ewa!«, rief er mit den Armen fuchtelnd. »Warten Sie, ich muss mit Ihnen sprechen! Ewa! Ich bin ein Freund von Zamorra.«
Die Einhornreiterin beachtete ihn nicht, sondern ritt seelenruhig über den bereits wieder belebten Roten Platz. Milizionäre am östlichen Ende traten ihr mit gezogenen Pistolen und Kalaschnikow-Sturmgewehren entgegen. Auch nach dem Fall der Sowjetmacht waren die Miliz und die Soldaten noch gegenwärtig.
Die Rote Diktatur hatte ihr Erbe hinterlassen, an dem Glasnost nicht viel änderte. Ein Korporal sprach übers Handy mit seinem Vorgesetzten, dem Offizier vom Dienst der Kremlschutztruppe.
Der Korporal hatte schon befürchtet, übel zusammengestaucht zu werden, als er die Einhornreiterin meldete. Doch das war nicht der Fall. Ihr Auftreten war schon vorher gemeldet worden.
»Sie darf auf keinen Fall in den Kreml«, befahl der Offizier von Dienst. »Stoppt sie mit allen Mitteln!«
»Das heißt…«
»Erschießt sie mitsamt dem Einhorn, wenn sie sich nicht ergibt und festnehmen lässt. Das ist ein Befehl.«
»Verstanden!«
Der Miliz-Korporal in der braunen Sommeruniform knallte die Hacken zusammen. Auch das war noch ein Überbleibsel des sowjetischen Drills. Er leitete den Befehl an seine acht Männern weiter.
Dann trat er der auf die Kremlpforte zutrabenden Reiterin mit erhobener Pistole entgegen.
»Stoj!«, kommandierte er mit einer Stimme, wie sie schon die Unteroffiziere in der Armee des altägyptischen Pharaos Ramses gehabt hatten. »Keinen Schritt weiter, Genossin, oder wir schießen!«
Eva antwortete nicht, sondern kam immer näher. Die Hufe des Einhorns schlugen Funken auf dem Pflaster.
»Zum letzten Mal - Stoj!«
»Halt!«, rief Saranow, der das Unausweichliche kommen sah. »Lasst mich mit ihr verhandeln! Nicht schießen!«
Doch es war schon zu spät.
Der Korporal drückte ab, und seine Untergebenen folgten seinem Beispiel. Großkalibrige Tokarew-Pistolen krachten, und Schnellfeuergewehre spuckten Feuer und Blei.
Schier unaufhaltsam jagten die Projektile auf das Mädchen und sein wundersames Reittier zu.
Aber im letzten Moment umgab die beiden ein helles Leuchten. Die Kugeln trafen es und fielen plattgedrückt nieder.
Mit einem Mal verstummte das Donnern der Waffen. Die Soldaten starrten mit offenen Mündern. Sie konnten nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sahen.
Die Hufe des Einhorns lösten sich vom Boden. Als ob es Flügel hätte, schwebte es empor, flog übers Lenin-Mausoleum und die Kreml-Mauer hinweg hoch zum Regenbogen.
Kurz darauf erreichte es ihn, und die junge Reiterin mit dem Einhorn galoppierte über den Regenbogen.
Ein vielstimmiges »Ah!« gellte ihnen vom Roten Platz hinterher, und schon waren die beiden, Eva und das Einhorn, verschwunden, als ob sie nie existiert hätten.
Boris Saranow wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
Wer es nicht selbst erlebt hat, der glaubt’s nicht, dachte er.
***
Ein gellender Schrei, dem ein Röcheln folgte, ertönte aus dem Handy in Zamorras Hand.
»Zamorra, ich warte auf dich!«, grollte eine Stimme, die sicherlich nicht Mostache gehörte. »Komm allein und ohne Waffen! Oder ich bringe alle um, die hier drin sind und fackele dein Dorf ab! In fünf Minuten will ich dich sehen, oder ich breche dem ersten Dorfbewohner den Hals und für jede weitere Minute, die du dich verspätest, einem weiteren.«
Der Sprecher meinte es ernst. Das Amulett auf Zamorras Brust hatte sich erwärmt. Er spürte, dass es sich um einen Dämon handelte, mit dem
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