0763 - Strigen-Grauen
übrig, als weiter darüber zu rätseln.
Unter dem Pflaster, also in der Wunde, pochte es. Kleine, heftige Hammerstöße erwischten sie, als wollten sie ihr eine Botschaft mit auf den Weg geben. Sie erinnerten Helen daran, daß sie sich gewisse Dinge nicht eingebildet hatte, und wieder rollte die Furcht in Form einer kalten Haut über ihren gesamten Körper. Sie hob den rechten Arm an, um nach der Wunde zu tasten. Bevor sie diese berühren konnte, zögerte sie. Plötzlich war die Angst davor, etwas Neues zu entdecken, das sich über Nacht gebildet hatte, sehr groß. Es kostete sie Überwindung, das Pflaster zu berühren, und als sie mit der Fingerkuppe den leichten Druck ausübte, da war alles anders. Der Schmerz härter und intensiver, ein hartes Stechen, das hoch bis zu ihrer Stirn reichte und dort leicht explodierte.
Hatte sich die Wunde etwa verändert? War sie möglicherweise gewachsen und größer geworden?
Hatte sie sich nach vorn verlagert? War sie »beuliger« und dicker geworden?
Um das herauszufinden, durfte das Pflaster nicht mehr auf ihr kleben. Sie mußte es entfernen. Das wollte sie nicht im Bett machen, sondern im Bad. Es konnte auch sein, daß sich die Wunde zum Positiven hin verändert hatte. Zwar kam ihr der Gedanke absurd vor, er beschleunigte trotzdem ihre Reaktion, und hastig stieg sie aus dem Bett. Es stand fest, daß sie an diesem Tag nicht in die Firma gehen würde. Sie wollte den Fragen ausweichen und keine Erklärungen geben. Eine Woche Urlaub würde ihr guttun. Und dann wollte sie nicht in London bleiben, sondern wegfahren. Denn hier war sie einfach zu präsent. Da kamen auch die Kollegen mit tausend und mehr Fragen. Nein, sie würde keinem sagen, wo sie hinfuhr.
Helen Kern stand vor dem Bett. Nicht munter, wenigstens nicht körperlich. Bleigefüllte Glieder, schwere Arme und Beine, dicke Finger, Schmerzen in der rechten Wange und hinter der Stirn, all das vereinigte sich zu einem Druck, dem sie nichts entgegensetzen konnte.
Die Angst war geblieben.
Das Blut auch.
Sie sah es auf der Bettdecke und schüttelte sich. Sie hatte darin geschlafen. Es war noch nicht ganz trocken gewesen, als sie sich hingelegt hatte, und jetzt klebten einige Reste an ihrem seidenen Nachthemd. Ihr wurde übel, als sie das Blut sah, und Helen hastete ins Bad, wo sie noch die Unordnung der vergangenen Nacht vorfand, die sie hinterlassen hatte. Normalerweise hätte sie aufgeräumt, an diesem Morgen sah sie sich dazu nicht in der Lage. Und so ließ Helen die Dinge liegen, die sie in der Nacht während ihrer Panik aus den Fächern gerissen hatte.
Erst duschen und danach das Pflaster entfernen oder den umgekehrten Vorgang beschreiten?
Sie entschied sich für die vorherige Dusche. Der Schweiß klebte sowieso auf ihrer Haut und mußte weggespült werden. Nicht nur die Wanne war sehr geräumig, die Dusche war es ebenfalls. Da hätten auch bequem zwei und drei Personen Platz gehabt, zudem drang das Wasser aus drei verschiedenen Duschtassen an der Decke. Da wurde jeder Hautflecken getroffen.
Es tat ihr gut, unter den Strahlen zu stehen. Sie duschte sehr heiß, schrubbte sich ab und spürte auch, daß unter dem Druck des Wassers das Pflaster allmählich aufweichte. Sie wollte es entfernen.
Als die letzten Schaumreste in den Abfluß gurgelten, verließ auch Helen die Dusche. Sie griff nach dem weißen, großen, flauschigen Badetuch, hüllte sich darin ein und rubbelte sich trocken. Die Duschhaube schleuderte sie in die Ecke, fühlte sich wenig später trocken genug, um in den bereitliegenden Slip zu steigen, der nicht mehr als ein Hauch von dünnem Stoff war.
Ihr fiel das Pflaster wieder ein, das sie entfernen wollte, und sie spürte gleichzeitig das Hämmern in der kleinen Wunde überdeutlich, als sollte sie genau in diesem Augenblick daran erinnert werden.
Helen preßte die Lippen zusammen. Sie brauchte sich nur einmal zu drehen, um in den Spiegel schauen zu können.
Ihr Bild wurde zurückgegeben. Sie sah schlecht aus. Ränder unter den Augen, scharfe Falten an den Mundwinkeln und eine Hautfarbe, die ihr gar nicht gefiel. Nicht frisch, sondern grau und welk, wie sie ihre Haut noch nie zuvor gesehen hatte, auch nicht nach durchfeierten Nächten, denn da hatte sie schon einiges hinter sich.
Diese Farbe war einfach anders, um von Helen als normal betrachtet zu werden. Sie bekam sogar etwas Furcht vor ihrem eigenen Anblick und brachte ihr Gesicht trotzdem näher an den Spiegel heran, um mehr erkennen zu
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