0763 - Strigen-Grauen
alles. Allerdings starben der Fahrer und der Beifahrer des Motorrads, das in den Wagen hineinfuhr.« Glenda hob die Schultern.
»Ich wundere mich wirklich, daß dieser Frau kaum etwas passiert ist. Sie muß einen Schutzengel gehabt haben.«
»Ja, das scheint mir auch so.« Ich kam wieder auf die Akte zu sprechen. »Ist sie denn nur wegen des Verkehrsunfalls angelegt worden, oder hat es noch andere Gründe gegeben?«
Glenda schüttelte den Kopf. »Nein, keine.« Sie schüttelte den Kopf abermals. Jetzt verrutschte eine Spange.
Sie merkte es und steckte sie wieder fest. »Außerdem ist die Akte nicht so dick. Sie sieht nur so aus. Man hat die beiden Papiere, es sind wirklich nur zwei, zwischen diese dicken Seiten geklemmt.«
»Gibt es sonst noch ein Problem mit ihr?«
»Nein.«
»Was ist sie von Beruf?«
»Sie ist ledig, dreißig Jahre alt und arbeitet in einer Werbeagentur. Sie wohnt in Kensington, aber das kannst du alles selbst lesen.« Sie warf mir die Unterlage rüber.
»Was macht sie denn in der Agentur? Kocht sie dort den Kaffee?«
»Nicht jede ist so dumm wie ich«, klärte mich Glenda auf, die heute nicht so gut auf mich zu sprechen war. »Wenn ich mich nicht geirrt habe, ist sie so etwas wie eine Chefin oder Abteilungsleiterin. Sie trägt den Titel Creative Director. Aber du weißt ja, wie das ist. Den kann sich jede Mutter mit Kindern anhängen, die wirklich jeden Tag kreativ sein muß, um sich immer wieder auf neue Situationen einzustellen.«
»Du vergißt dabei den Ehemann und Vater.«
»Auch bei dem muß sie kreativ sein.«
Ich beschloß, Glenda zu ärgern. Grinsend fragte ich: »Hast du deshalb nie geheiratet?«
Sie zwinkerte mir zu. »Du meinst, weil mir möglicherweise die Kreativität fehlt?«
»Das hast du gesagt.«
Sie stand auf. Ein böser Blick traf mich. »Warte ab, Mr. Sinclair, das kriegst du bei passender Gelegenheit zurück. Ich verspreche es dir hoch und heilig.«
Dann rauschte sie aus dem Raum, und ich zuckte zusammen, als sie die Tür hinter sich zuknallte. Ja, da hatte ich es wohl zu weit getrieben. Das würde sich wieder einrenken, dafür kannten wir beide uns eben viel zu gut.
Ich schaute noch einmal in die Mappe hinein und merkte mir die Anschrift. Kensington war eine gute Gegend. Wer hier wohnte, mußte entsprechend verdienen, um die hohe Miete aufbringen zu können. Aber die Agenturen zahlten Spitzenkräften gute Gehälter, das wußte ich auch.
Die Mappe ließ ich liegen und ging aus meinem Büro. Glenda schaute nicht einmal auf, als ich in das Vorzimmer trat. Ich wollte etwas sagen, sie merkte es und fauchte mich an.
»Verschwinde, du Ekel, bevor ich hier noch durchdrehe und alles zerstöre.«
Ich hob beide Hände und ging rückwärts. »Ist ja schon gut, ich bin auch weg.«
»Das möchte ich dir auch geraten haben.« Als ich die Tür öffnete, drehte sich Glenda doch herum.
»Und viel Spaß bei Helen. Ich bin mal gespannt darauf, wieviel Kreativität du entwickeln kannst.«
»Das werde ich dir berichten.«
»Danke, ich verzichte.«
Damit waren die letzten Worte gesagt, und ich stahl mich gewissermaßen von dannen.
Auf diese Helen Kern war ich gespannt. Warum hatte Sanders ihren Namen erwähnt? Spielte sie auch im Orchester der Geheimdienste eine Rolle, oder war sie ein Opfer?
Ich hoffte, daß Helen es mir sagen würde…
***
Helen Kern wußte nicht, ob sie schreien, weinen oder nur stumm bleiben sollte. Sie war einfach nur entsetzt, stand auf dem Fleck und tat gar nichts.
So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Das war auch nicht zu erklären. Sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Anblick, als wäre sie kein Mensch, sondern ein Monstrum.
Was da durch ihren Kopf raste, waren nicht einmal unkontrollierte Gedanken, sondern Ströme aus Angst und Grauen. Das Badfenster stand schräg. Durch den Spalt drang ein morgendlicher Luftzug und erreichte auch die dünne Feder. Sie zitterte im leichten Wind. Selbst das sah Helen.
Plötzlich machte sie kehrt. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie das tat. Sie ging einfach weg, durchquerte das Schlafzimmer, zog sich nicht einmal an, lief die weiß gestrichene Holztreppe hinab, vorbei an ihren modernen Grafiken, die allesamt von einem Künstler stammten, der für die Agentur arbeitete, und blieb neben der sechseckigen Marmorsäule im Wohnraum stehen.
Auf ihr stand auch das weiße Telefon.
Um diese Zeit befanden sich noch keine Kollegen in der Agentur, aber Prissy, die Sekretärin und der gute Geist des Hauses, hockte
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