0763 - Strigen-Grauen
innen her einen gewissen Druck, und sie hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Das Mal konnte sie nicht wegdiskutieren, und sie wollte es auch nicht. Aber sie wollte etwas anderes. Es nicht mehr sehen, sondern nur durch das Ziehen in der Wange daran erinnert werden.
Deshalb bückte sich Helen, um auf dem Boden nach einem größeren Pflaster zu suchen. Die Schachtel war bis unter das Waschbecken gerutscht. Als sie das Pflaster herausnahm, zitterten ihr die Hände. In ihrer Kehle lag ein Geschmack von alter und kalter Asche.
Fest drückte sie das Pflaster auf die Wange. Jetzt war die Feder tatsächlich verschwunden, und der rechteckige hautfarbene Gegenstand störte sie nicht weiter.
Mit noch immer unsicher wirkenden Schritten verließ sie das Bad und fragte sich, wie es weitergehen sollte. Sie hatte ja vorgehabt, in ein kleines Hotel zu fahren und dort abzuwarten. Ihr schwebte auch schon etwas vor. Ein bestimmtes Haus in einer bestimmten Gegend, und es projizierte sich in ihr Gehirn hinein wie ein sehr scharfes Standbild, das sich einfach nicht löschen lassen wollte. Als gäbe es eben nur dieses Bild und sonst nichts anderes.
Im Wohnraum dachte sie darüber nach, daß sie für die Reise noch Koffer packen mußte. Viel brauchte sie nicht mitzunehmen, einige T-Shirts, Hosen, Unterwäsche…
Genau da klingelte es.
Helen Kern hatte mit allem gerechnet, damit allerdings nicht. Und deshalb schrak sie auch zusammen, und über ihren Rücken lief ein leichter Schauer.
Wer wollte etwas von ihr? War es jemand aus der Firma? Das konnte nicht sein, sie hatte schließlich dort angerufen und Bescheid gegeben. Und eine Kontrolle würde es nicht geben.
Besuch konnte es auch nicht sein, erstens hatte sie keinen eingeladen, und zweitens war sie eine Person, zu der eigentlich nur Besuch am Abend kam, und der hatte sich dann angemeldet.
Dieser hier nicht.
Sie wollte trotzdem öffnen. Ihre Neugierde wirkte, obwohl sie sich einen Besucher um diese Zeit wirklich nicht vorstellen konnte. Helen ging zur Tür. Leider gab es kein Guckloch, aber sie hatte die Sperrkette vorgelegt.
Trotzdem konnte sie die Tür spaltbreit öffnen und auch in den hellen Hausflur schauen.
Sie sah einen blonden Mann vor sich, der nicht unsympathisch wirkte. Er trug eine helle Lederjacke - schon leicht zerknittert - und eine dünne Hose. Das bunte Hemd, in dem die etwas blassen Farben ineinanderliefen, stand unter dem Hals zwei Knöpfe weit offen. Das Lächeln auf den Lippen des Mannes wirkte ehrlich und offen.
»Ja bitte…«, sagte sie.
»Mein Name ist John Sinclair. Ich bin Scotland-Yard-Beamter und hätte gern mit Ihnen ein paar Sätze gesprochen, Miß Kern. Nichts Schlimmes, wirklich nicht. Nur eine Auskunft.«
Helen überlegte. Sie sah auch den Ausweis des Fremden, las ihn und erwiderte: »Kommen Sie bitte herein…«
***
Ich sah, wie Helen Kern die Kette gelöst hatte und war erleichtert. Viele bekamen feuchte Hände und reagierten überzogen, wenn plötzlich ein Mensch vom Yard vor ihnen stand. So etwas kannten sie oft nur aus der Zeitung oder vom Bildschirm her. Nicht Helen, sie gab sich locker.
Ich hatte Zeit genug gehabt, sie mir zu betrachten. Sie trug normale Sommerkleidung, die fiel auch nicht weiter auf, im Gegensatz zu ihren Haaren, denn sie kamen mir vor wie eine braunrote Flut.
Helens Teint zeigte eine gesunde Bräune, und wenn mich nicht alles getäuscht hatte, waren ihre Pupillen grün gewesen. Das Haar hatte sie nicht gebändigt, sondern nur etwas nach hinten geschoben. Ein verlegenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie mir die Tür aufhielt und in den Flur hineindeutete, den ich betreten sollte.
Eine schöne Wohnung hatte sie. Modern, aber nicht kalt. Viele helle Möbel, doch auch bunte Farbtupfer dazwischen. Damit meinte ich die Bilder an den Wänden.
Wir gingen in den Wohnraum. »Suchen Sie sich einen Platz aus, Mr. Sinclair. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Saft vielleicht, ein Wasser oder ein Bier?«
»Der Saft wäre mir recht.«
»Gern.« Sie verschwand. Hinter mir hörte ich sie werkeln, dann kehrte sie zurück. Von einem Tablett nahm sie bunte Longdrinkgläser und stellte sie auf den Tisch. In einer dazu passenden Karaffe schwammen kleine Eisstücke im gelben Orangensaft.
Sie setzte sich. »Dann auf Ihr Wohl«, sagte sie und hob das Glas an.
Ich schaute ihr zu. Mir fiel auf, daß ihre Hände leicht zitterten. Auch sie sah meinen Blick, lächelte etwas verkrampft und trank. Der Saft tat gut.
Ich stellte
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