0763 - Strigen-Grauen
das Glas wieder ab und überlegte, wie ich beginnen sollte. Eine Marschroute hatte ich mir nicht zurechtgelegt, ich wollte aus dem Bauch heraus agieren und mich auf die Gegebenheiten einstellen, wie sie kamen.
Ich sah das Pflaster an der Wange, und auch die Frau bemerkte meinen Blick. Sie errötete leicht, übernahm aber die Initiative. »Sie schauen auf das Pflaster?«
»Pardon, das geschah automatisch…«
»Keine Sorge, Mr. Sinclair. Da hat mich nur ein Insekt gestochen, und die Wunde hat sich entzündet, weil ich versucht habe, diesen Pickel auszudrücken.«
Ich lachte. »Das passiert uns wohl allen.«
»Sicher.« Helen saß mir gegenüber, schlug die Beine übereinander und kam dann zum Kern der Sache. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was ein Yard-Mann von mir will.«
»Das ist auch komisch.«
»Wie komisch?«
»Es geht Sie nur indirekt an.«
»Fragen Sie mich als Zeugin?«
»So ähnlich.«
»Und weiter? Was soll ich gesehen haben? Einen Verkehrsunfall etwa? Ich bin mir dessen nicht bewußt. Deswegen würde auch kein Mann von Scotland Yard hier erscheinen.«
»Da gebe ich Ihnen recht.«
»Es geht also nicht uni eine Zeugenaussage.«
»Nein, nicht, Miß Kern. Es geht mir einzig und allein um eine Information.«
»Ja.«
»Die ich Ihnen geben kann?«
»Das hoffe ich.«
Sie breitete die Arme aus und legte sie auf die Couchlehnen. »Da bin ich aber gespannt.«
»Ach, so schlimm ist es nicht. Ich wollte Sie wegen eines bestimmten Mannes befragen. Er heißt Sanders. Kennen Sie ihn?«
»Sanders…?« murmelte sie gedehnt.
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf, trank einen Schluck, behielt das Glas in der Hand und sagte den Namen immer wieder.
Ich überlegte, ob sie mir etwas vorspielte. Wahrscheinlich nicht, denn soviel Menschenkenntnis hatte ich schon. Aus der Akte hatte ich erfahren, wo sie beschäftigt war. Vor meinem Besuch hatte ich vom Wagen aus in der Werbeagentur angerufen und erfahren, daß sich Helen Kern krank gemeldet hatte. Nur sah sie mir so krank auch nicht aus, abgesehen von ihrer Wunde an der Wange. Vielleicht wirkte sie ein wenig abgespannt, wie jemand, der zu wenig Schlaf bekommen hatte. Auch unter den Augen zeichneten sich dünne, leicht bläuliche Ringe ab.
»Sanders…«
»Ja, bitte.«
Sie stellte ihr Glas wieder auf den Tisch. »Den Namen kenne ich nicht. Hat das vielleicht etwas mit meinem Verkehrsunfall damals zu tun?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Dann bin ich überfragt.«
»Schade.«
»Aber sagen Sie mir bitte, Mr. Sinclair, wie Sie ausgerechnet auf mich dabei kommen?«
»Das ist ganz einfach. Dieser Sanders hat mir Ihren Namen gesagt. Das ist alles.«
»Komisch.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht kenne ich ihn doch. Wäre es nicht besser, wenn Sie ihn mir zeigen? Wenn wir zu ihm fahren und ich ihm persönlich…«
»Das wird leider schlecht möglich sein, denn dieser Sanders lebt nicht mehr. Er wurde erschossen.«
Helen sagte nichts. Sie saß nur da und wurde weiß im Gesicht. Ich konnte zusehen, wie sich ihre Haut veränderte. Dabei schluckte sie auch und flüsterte schließlich: »Erschossen? Wirklich erschossen? Einfach so, Mr. Sinclair?«
»Ich war dabei.«
Helen atmete durch die Nase ein. »Warum das denn? Warum hat man ihn getötet?«
»Um das herauszufinden, bin ich zu Ihnen gekommen, Miß Kern.«
»Aber ich kenne ihn nicht!« rief sie.
»Akzeptiert. Nur stelle ich mir natürlich die Frage, warum er dann Ihren Namen erwähnt hat.«
»Das wundert mich auch.«
»Es muß eine Verbindung zwischen ihm und Ihnen gegeben haben. Ich glaube nämlich nicht, daß er Ihren Namen grundlos erwähnt hat. Irgendwo und irgendwann müssen Sie schon zusammengetroffen sein. Sie können sich nur nicht daran erinnern.«
»Ja, das wäre möglich.« Sie schaute an mir vorbei zum Fenster hin. Dabei hob sie eine Hand und kratzte an den Rändern der Wunde. »In meinem Privatleben kenne ich niemand, der so heißt.«
»Und wie sieht es mit dem beruflichen aus?«
Sie hob die Schultern. »Auch da tummelt sich kein Sanders. Selbst unter unseren Kunden nicht. Unter denen, die ich betreue. Tut mir leid.«
»Das ist natürlich schlecht.«
»Vielleicht haben Sie sich verhört? Ist ja möglich. Kann sein, daß der Mann einen Namen genannt hat, der so ähnlich klang wie meiner. Oder finden Sie nicht?«
»Ausschließen möchte ich das nicht, Miß Kern.«
»Sagen Sie doch Helen zu mir. Das andere klingt immer so schrecklich förmlich. Ich bin es gewohnt, mit dem
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