0764 - Zeit der Grausamen
Unrechtes oder ein Verbrechen begangen hatte, kam ihr dabei nicht in den Sinn. So etwas durfte sie nicht mal denken, denn die andere Hälfte ihrer Doppelnatur hatte mittlerweile die Überhand gewonnen.
Ihr veränderter Mund hatte sich zu einem Lächeln verzogen. Der Weg in den Keller war ihr so vertraut, und sie glaubte sogar, die Schreie zu hören, die auch früher oft durch diese Räume geklungen waren. Das hatte sie ja aufmerksam werden lassen. Da hatte sie ihre Angst überwunden und war in den Keller gegangen.
Viel hatte sie dort nicht gesehen, zumindest keine Folterknechte. Sie war nach diesem ersten Besuch auch wieder sehr schnell gegangen und dabei Sanders in die Arme gelaufen.
Noch unter dem Schock des Erlebten stehend, hatte sie ihm alles berichtet, und Sanders hatte gut zugehört. Sie war froh, ihn getroffen zu haben, denn er hatte zu denjenigen Patienten gehört, mit denen sie gut zurechtkam, trotz seines etwas unsympathischen Aussehens. Aber dahinter schien sich ein echter Mensch und Freund zu verbergen, jedenfalls hatte sie damals jemand gebraucht, um über das Erlebte zu reden.
Sanders hatte auch Verständnis für sie gezeigt und sie erst in sein Zimmer holen wollen.
Da hatte sie sich geweigert. Beide waren dann in eine stille Sprechecke der Klinik gegangen, hatten sich gesetzt und Helen hatte Sanders ihr Herz ausgeschüttet.
Sie hatte von den Schreien gesprochen, die nicht normal waren, und Sanders hatte zugehört. Sein Gesicht war dabei immer ernster geworden, schon so etwas wie eine Vorwarnung auf seine folgende Antwort.
»Du solltest vorsichtig sein, Helen.« In der Klinik redet man sich untereinander mit du an.
»Warum?«
»Weil es hier Dinge gibt, um die du dich besser nicht kümmerst. Sie sind hier einmal in Bewegung gesetzt worden und lassen sich nicht mehr aufhalten. Erst recht nicht von dir.«
»Du kennst sie?«
»Vielleicht.«
»Was sind das denn für Dinge, von denen du redest?«
Sanders hatte mit beiden Händen abgewinkt. »Das kann ich dir nicht sagen, und wenn ich es dir sagen könnte, dann würde ich es nicht tun, verstehst du?«
»Nein.«
Er verdrehte die Augen. »Kind, du bist hier, um zu kuren. Nicht mehr und nicht weniger. Zieh es einfach durch. Alles andere kannst du vergessen, glaube es mir.«
Helen gehörte in ihrer Position nicht - zu den dummen Menschen. Sonst wäre sie nicht so weit gekommen. Und sie hatte in ihrem Leben schon einiges gelesen und auch zahlreiche Thriller gesehen.
Nicht wenige Handlungen dieser Filme konzentrierten sich auf Kliniken und Sanatorien, in denen oft unheimliche Dinge versteckt vor der Öffentlichkeit geschehen. Sofort dachte sie daran, daß dies auch hier der Fall sein müßte und hakte bei Sanders nach.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Aber du weißt es.«
»Nein, nicht genau.«
Sie schaute ihm in die Augen. Oft genug kann man an den Augen eines Menschen erkennen, ob die Person lügt oder nicht. Mit Sanders kam sie nicht klar, er war ihr suspekt, doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm Vertrauen zu schenken. Sie glaubte trotz aller Vorbehalte nicht, daß er sie nur reinlegen wollte. »Kannst du mir denn nicht wenigstens eine Andeutung machen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Was soll ich jetzt tun?«
Ernst schaute er sie an. »Bestimmte Orte in der Klinik meiden, Helen. Nicht hingehen, das ist die beste Lösung. Tust du es doch, kann es ins Auge gehen.«
Seine Stimme hatte so ernst geklungen, daß bei ihr eine Gänsehaut entstanden war. Und über diese Warnung dachte sie auch später nach, als sie sich allein in ihrem Zimmer aufhielt. Dort hockte sie in dem schmalen Sessel, vom Schein der Lampe angeleuchtet, und brütete über gewisse Dinge nach.
Sie hatte feuchte Hände bekommen, und in ihrer Phantasie stellte sie sich die schrecklichsten Dinge vor. Meist waren es Sequenzen von Filmen, die sie irgendwann einmal gesehen hatte. Sie hörte die Schreie der Gefolterten in ihren Ohren gellen. Sie sah Blut, viel Blut. Sie sah einen Mann im weißen, blutbesudelten Kittel mit einem gewaltigen Messer durch einen Folterraum geistern und mit der Klinge auf wehrlose Menschen einschlagen.
Schweißgebadet wachte sie auf. Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie nur geträumt hatte. Wieder in die Realität zurückgekehrt, dachte sie darüber nach, ob so etwas überhaupt stimmen konnte. Nein, sicherlich, das hatte sie sich nur eingebildet. Da war die Phantasie mit ihr durchgegangen, da hatte ihr auch das Unterbewußtsein schlimme Bilder
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