0764 - Zeit der Grausamen
verzichtet worden. Gänge mit kahlen Wänden, betongrau, ohne Schmuck, rein zweckmäßigfunktionell.
Sie bewegte sich so sicher, als wäre sie die Königin in diesem Reich. Und Helen wußte auch, wo sie hinzugehen hatte. Ein großes Ziel, ein Raum, den sie aus der Erinnerung her kannte, doch nun kehrte sie zurück, und sie war nicht mehr das Opfer.
Auf ihrer linken nackten Körperseite spürte sie ein Kribbeln. Rechts durchrann sie eine gewisse Wärme, und sie kam sich vor, als würde das Gefieder Feuer fangen.
Eine weitere Tür hielt sie auf. Schwaches Notlicht fiel schleierartig über ihren Körper und ließ das Gefieder an der rechten Seite farbig schimmern.
Sie wußte sofort, daß dies die richtige Tür war und daß sie bereits erwartet wurde.
Eine Klinke sah sie nicht, dafür einen Hebel, den sie umlegen mußte. Mit ihrer menschlichen Hand faßte sie zu und drückte ihn nach unten.
Dann zerrte sie die Tür auf und vernahm dabei ein leichtes Schwappen, aber sie merkte auch, wie die Helligkeit einer eingeschalteten Lampe von innen her auf sie zukroch.
Es wartete jemand auf sie…
Helen wußte, daß es kein Feind war, und deshalb zog sie sich auch nicht erschreckt zurück. Sie drückte die Tür noch weiter auf, damit sie den nötigen Platz bekam.
Dann trat sie über die Schwelle.
Vor ihr lag ein kahler Raum mit Betonwänden. Er unterschied sich beim ersten Hinsehen in nichts von den anderen. Nur reichte das Licht der Lampe nicht aus, um ihn vollständig zu erhellen. Einiges lag im Dunkeln, aber das interessierte Helen Kern noch nicht. Sie ging einen weiteren Schritt nach vorn.
Mit der Klaue drückte sie die Tür wieder zu. Schwappend schloß sie sich.
Dann erst richtete sie den Blick nach vorn und schaute den Gegenstand an, der für sie einmal zu einem Instrument der Folter geworden war. Es war der harte, kantig gebaute Holzstuhl, auf dem man sie einmal angebunden hatte.
Ja, es war noch immer der gleiche, und auch diesmal war er nicht leer. Auf ihm saß ein Mann.
Helen blieb stehen, denn sie hatte ihn sofort erkannt. Es war der Bärtige, der sie beim ersten Besuch in Empfang genommen hatte. Er hatte sich verändert. Nach wie vor umwuchs der Bart die untere Hälfte seines Gesichts. Das Haar war pechschwarz, der Bart war es ebenfalls, nur der Mund sah darin aus wie eine feuchte Wunde. Er kam ihr klein vor, als hätte er sich zu einem Kußmund verändert.
Er trug eine Cordhose und ein graues Hemd. Seine Augen blitzten, er schien sie anstrahlen zu wollen, und als er leise lachte, da zuckte die dünne Haut an seinem Hals.
»Ich habe dich erwartet«, sagte er flüsternd. »Ja, ich habe darauf gewartet, daß du kommst…«
Helen erwiderte nichts. Spannung hielt sie erfaßt. Auf der normalen Haut lag ein Schauder, das Gefieder auf der anderen Seite hatte sich gesträubt. Ihr rechtes Vogelauge glänzte, als sei es lackiert.
Das linke Auge war normal. Hin und wieder zuckten die Wimpern.
»Ich kenne dich«, sagte sie.
»Das glaube ich schon.«
»Du hast mich auf den Stuhl gedrückt und angeschnallt. Jetzt erinnere ich mich wieder. Früher dachte ich, geträumt zu haben, aber das stimmt nicht. Es ist kein Traum gewesen. Es war alles echt, sehr echt sogar. So kann kein Traum sein.«
»Du solltest auch denken, nur geträumt zu haben. So lange, bis die Zeit reif war.«
»Ist sie reif?«
»Natürlich.« Er grinste jetzt. »Du bist zu unserer Sicherheit eingebaut worden. Erinnerst du dich, wie er zu dir kam?«
Helen nickte zögernd. »Ich habe ihn nicht sehen können, ich weiß nicht einmal, wer er war.« Sie senkte ihre Stimme. »Ich habe ihn einfach nur gefühlt.«
»War es ein gutes Gefühl?«
»Jetzt schon.«
Der Schwarzhaarige nickte. »Ja, das sagen sie alle, die von ihm besucht wurden.«
»Und wer ist er genau?« fragte sie flüsternd. »Hat er überhaupt einen Namen?«
»Er heißt Strigus!«
Helen überlegte. Dann sagte sie. »Ich kenne ihn nicht, ich habe den Namen nie zuvor gehört, aber ich finde ihn gut. Ja, er hörte sich sehr gut an. Wirklich.«
»Das meine ich auch.«
»Wo ist er jetzt?«
»Nicht hier. Dafür habe ich auf dich gewartet.«
»Und wer bist du?«
»Gregorin.«
Helen runzelte die normale Stirnseite. »Ich habe den Namen noch nie gehört«, gab sie zu.
»Das ist nicht wichtig. Ich konnte mich aus der Affäre ziehen, als die UdSSR auseinanderbrach. Ich habe andere Aufgaben übernommen, besser gesagt, ich habe Aufgaben weitergeführt, die ich vor Jahren übernommen
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