0766 - Das Grauen von Grainau
den Garten. Es gab keine andere Lösung, denn die Geräusche paßten einfach nicht in die Nacht hinein.
Eartha hatte sich so hingestellt, daß sie in Richtung Eingang schauen konnte. Unter der Decke des runden Vorbaus brannten Lampen. Manchmal tauchten auch dort Schatten auf, aber es waren nur die Zweige der Büsche, mit denen der Wind spielte.
Eine Stimme.
Eartha riß den Mund auf, und es sah so aus, als wollte sie schreien. Die Stimme war sicherlich nicht in ihrer Nähe aufgeklungen. In der Stille hörte man auch weit entfernte Geräusche.
Ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war, die da gesprochen hatte, das hatte sie nicht herausfinden können. Jedenfalls stufte sie dies nicht als normal ein.
Blieb die Stimme?
Ja, sie flüsterte wieder. Dann hörte sie ein leises Lachen. Es klang nicht fröhlich, sondern eher wissend und triumphierend, als hätte jemand etwas Bestimmtes herausgefunden.
Vielleicht den Ort, wo sich die Familie Davies versteckte. In diesen Sekunden auf dem Balkon kam Eartha in den Sinn, daß sie noch längst nicht in Sicherheit waren. Nie war das Gefühl der Bedrohung so stark gewesen wie in dieser Nacht. Selbst nach ihrer Ankunft nicht, wo sie immer sehr gespannt gewesen waren.
Eartha blieb noch einige Minuten unbeweglich stehen. Als sie nichts mehr hörte, ging sie wieder zurück in die Suite. Sehr sorgfältig schloß sie die Terrassentür.
Ihr Mann lag noch immer da wie tot. Er hatte von allem nichts mitbekommen. Eartha glaubte auch nicht, daß er ihr eine große Hilfe werden könnte, wenn es hart auf hart kam. Da war es besser, wenn sie sich auf ihren Sohn Mario verließ.
Wenn es jemand schaffte, sie zu retten, dann er…
***
Im Grab lagen zwei Leichen!
Zwei Männer, von denen der eine Tote noch ›frisch‹ war. Beim Einsinken war er auf den Rücken gerollt. Der Junge starrte geradewegs in das von Todesangst entstellte Gesicht des Gärtners, der in den letzten Sekunden seines Lebens Unbeschreibliches mitgemacht haben mußte. Er war kaum noch zu erkennen. Das Gesicht wirkte fremd und im Tode schrecklich entstellt.
Mario seufzte auf. Er verspürte nicht die geringste Furcht, dafür aber Triumph. Zudem eine große Befriedigung darüber, daß er es geschafft hatte. Er dachte in diesem Moment an seine Eltern. Nicht grundlos hatte er auf sie eingeredet, damit sie sich für das Versteck am Eibsee entschieden. Es war ihm schon in den Staaten klargewesen, wen und was er auf diesem Friedhof antreffen würde.
Gewonnen!
Noch nicht gesiegt. Es war der erste Schritt in Richtung Rettung, den er gegangen war. Trotz seiner fünfzehn Jahre war er bereits weit entwickelt. Nicht allein von seiner Körpergröße her. Er wußte auch, wie es im Leben lief und in welch großer Gefahr sich die Familie trotz allem noch befand.
Sein Vater hatte sich nun einmal entschlossen, einen bestimmten Weg zu gehen. Er war für viele ein Verräter, und solche Menschen liquidierte die Mafia. Das war sie ihrem Image schuldig. Ein Sidney Davies sollte kein Beispiel für Nachahmer geben.
Aber diesmal sollten sie sich verrechnet haben, denn sie würden einen Gegner vorfinden, der anders war als diejenigen, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatten. Dieser Gegner würde ihnen das Grauen bringen, und wenn sie versuchten, ihn zu vernichten, würde es ihnen nicht gelingen, denn Menschen, die bereits tot waren, konnten nicht mehr getötet werden.
Dafür töteten sie.
Mario Davies schwelgte in Zukunftsvisionen. Er stellte sich vor, wie die Killer starben, wie man ihnen keine Chance ließ und sie regelrecht zerrissen wurden.
Der Junge schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken zunächst vertreiben. Er wußte, daß unter dem Gärtner noch die zweite Leiche liegen mußte. Ein Toter, der bereits seit fast fünfzig Jahren hier lag, von dem eigentlich nichts mehr zurückgeblieben sein konnte.
Mario schaute auf den Grund des Grabs. Da hätte er noch Teile des Sargs sehen müssen, was nicht der Fall war. Die alte Totenkiste hatte sich völlig aufgelöst, aber nicht die Person, die in ihr gelegen hatte!
Mario wechselte seinen Platz. Er kniete sich vor das Grab und blickte schräg in die Tiefe. So hinderte ihn der tote Körper des Gärtners nicht.
Aus dieser Perspektive sah er besser. Er konnte beinahe unter den Gärtner schauen. Als er den Kopf senkte, ihn sogar noch drehte, da huschte ein Lächeln über sein Gesicht, denn nun bekam er den endgültigen Triumph präsentiert.
Der Tote war nicht verwest!
Keine Asche,
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