0766 - Das Grauen von Grainau
hatten gestoppt. Massenweise wurden die Kisten mit Limo und Wasser abgeladen. Einige Touristen - Spaziergänger - schauten zu, wie die Wagen entladen wurden. Besonders die Kinder hatten dabei großen Spaß.
Sepp schob den Hut zurück, den er von seinem Vater geerbt hatte. Das Gesicht unter dem Haar zeigte einen pfiffigen Ausdruck, aber die Sorge nahm immer mehr zu. Außerdem würde sich die Arbeit bis in den Abend hinein verlängern, und das wollte er auch nicht. Er hatte seiner Mutter versprochen, sie nach Garmisch zu einem Konzert zu fahren.
Dann hörte er Schritte.
Er schaute nach rechts und sah die dunkel gekleidete Gestalt des Pfarrers auf sich zukommen.
Hochwürden hieß Prantl mit Namen, stammte aus Oberammergau, trug aber keinen Rauschebart wie Akteure der Festspiele. Sein Gesicht war blaß. Er ging kaum in die Sonne, und deshalb sah der Kontrast zwischen Soutane und Haut noch stärker aus.
Prantl sah wohlgenährt aus. Sein Gesicht sah immer so aus, als wäre es frisch gescheuert worden, und der Mund mit den feuchten Lippen zeigte ein ständiges Lächeln. Wenn er die Messe las, trug er immer eine Brille, auf die er jetzt verzichtete.
Sepp Huber wußte, was sich gehörte, als er den Pfarrer auf sich zukommen sah. Er stand auf und lächelte.
Hochwürden nickte ihm zu. Er trug auf dem Kopf sein Birett mit den vier Zacken. Unter der Bedeckung waren die grauen Haare fast völlig verschwunden.
Die Hände hatte er zusammengelegt, blieb stehen und schaute an dem größeren Sepp hoch. »Nun, mein Sohn, du siehst aus, als hättest du Sorgen.«
Dem jungen Mann war etwas unbehaglich zumute. Schon seit seiner Kindheit hatte ihm der Anblick eines Pfarrers stets Respekt eingeflößt, den hatte er auch als Erwachsener nicht ablegen können.
Wenn Hochwürden vor ihm stand, fühlte er sich immer wie ein Sünder, der auf frischer Tat ertappt worden war. Er dachte auch daran, daß der Pfarrer von seinen Vergehen wußte, schließlich ging er einmal im Monat zur Beichte.
Sepp senkte den Kopf und hob gleichzeitig die Schultern. »Keine direkten Sorgen, Hochwürden…«
»Aber…?«
»Es geht um Lichtenegger.«
»Was ist mit ihm.«
»Er ist noch nicht hier.«
»Und weiter?«
»Er hätte längst hier sein müssen. Wir wollten uns die Gräber anschauen, weil wir vor dem Winter noch einige Dinge ausbessern müssen. Für Neun waren wir verabredet, bald ist es Zehn, und ich habe ihn noch immer nicht gesehen. Ich mache mir Sorgen.«
Der Pfarrer lachte und winkte ab. »Er wird sich verschlafen haben, der Gute.«
»Glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er ist immer pünktlich gewesen, auch wenn er gesof… ähm, einen Rausch gehabt hat.« Sepp wußte, was sich einem Pfarrer gegenüber gehörte. Da konnte er nicht so sprechen wie mit seinen Zechkumpanen.
Hochwürden nickte. »Keine Sorge, mein Junge, es war auch für ihn eine lange Nacht.«
Huber überlegte. Der Pfarrer wußte mehr. Das hatte er seiner Antwort entnommen. Wieso konnte Hochwürden wissen, daß es für Lichtenegger eine lange Nacht gewesen war? War der Gärtner etwa im Auftrag des Geistlichen unterwegs gewesen?
Der Pfarrer lachte, als er Sepps Gesicht sah. »Keine Sorge, mein Freund, dahinter verbirgt sich keine Verschwörung. Ich habe die Zustimmung gegeben, daß er sich einmal den Friedhof in der Nacht anschaut. Ich habe nämlich den Verdacht, daß dort einiges nicht mehr stimmt. Einige Anzeichen weisen daraufhin, daß unser Kirchhof in der Nacht ungebetenen Besuch bekommen hat.«
»Von wem denn?« fragte Sepp spontan und schalt sich einen Narren, weil er so dumm gefragt hat.
Hochwürden blieb gütig. Auch mit seinem Lächeln. »Das hat unser Freund eben herausfinden wollen. Keine Sorge, auch ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.«
Sepp Huber war beruhigt. »Dann wird er noch schlafen. Es kann spät geworden sein.«
Pfarrer Prantl nickte. »Ganz bestimmt sogar.« Er schaute sich um. »Welch ein herrlicher Tag heute. Leider spüre ich mein linkes Knie. Ein Wetterwechsel steht bevor. Vielleicht gibt es ein Gewitter.«
Sepp war das egal. Er wollte nur wissen, ob er bleiben sollte oder nicht.
»Natürlich wirst du deiner Arbeit nachgehen. Der gute Lichtenegger wird dich doch eingeweiht haben.«
»So ungefähr schon.«
»Dann schau dir die Gräber genau an und schreibe auf, welche wieder hergerichtet werden müssen. Du kannst mir ja später darüber Bescheid geben, falls Lichtenegger bis dahin noch nicht eingetroffen ist. Sonst wird er die
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