0766 - Das Grauen von Grainau
Mann in Ruhe!«
Die dunklen Augen funkelten mich an. Es war ein wahrer Haßregen, der mich verunsicherte. Bevor er ging, zischte er mir noch einen Satz zu. »Ich wollte, du wärst tot, Mister! Und du wirst es bald sein, das kannst du mir glauben!« Abrupt machte er kehrt und ging zu seinen Eltern zurück. Der Vater hatte sich bereits erhoben, um seinen Sohn zurückzuholen. Jetzt aber setzte er sich wieder hin.
Mario ging nicht zu ihm, sondern zu seiner Mutter, die aus ebenfalls kalten Augen zu mir herüberstarrte und dann die Hand ihres Sohnes umfaßte wie eine Beschützerin.
Bei ihr schien ich ebenfalls keinen Stein im Brett zu haben. Das konnte heiter werden, und ich fühlte mich schon jetzt durchschaut, was mir natürlich gar nicht gefiel.
Sidney Davies erhob sich. Er sprach einige Worte zu seiner Frau, bevor er zu mir kam.
Ich stand auf.
»Sorry, Mister, ich weiß nicht, was mein Sohn zu Ihnen gesagt hat, aber ich möchte mich für sein Benehmen entschuldigen.«
»Schon gut.«
»Mein Name ist Davies. Sidney Davies.« Er hielt mir die Hand hin. Es war eben typisch amerikanisch.
Auch ich stellte mich vor und sah dabei in seinem Gesicht keine Reaktion des Erkennens.
»Darf ich Sie zu einem Drink einladen, Sir?«
»Das ist sehr nett, aber ich werde mich wohl ein wenig in die Sonne legen.«
»Hat mein Sohn Sie auch wirklich nicht beleidigt?«
»Sicherlich nicht.«
»Was sagte er dann?«
Da der Mann nicht lockerließ, wollte ich ihn mit der Wahrheit konfrontieren und war gespannt darauf, wie er reagierte. »Ihr Sohn hat mir nur erklärt, daß er mich haßt.«
Davies schluckte. »Wie bitte?«
»Ich kenne den Grund auch nicht. Aber er haßt mich. Das hat er mehrmals wiederholt.«
Davies war verlegen. Er entschuldigte sich erneut und hörte dann, wie Mario die Worte schrie. »Er ist ein Teufel. Wir müssen aufpassen. Er hat etwas an sich, das ich nicht mag. Es… es ist verdammt gefährlich, versteht ihr?«
Sein Vater drehte sich um. Sein Gesicht wirkte plötzlich dunkler. »Warum sagst du das?«
»Weil ich es spüre.«
»Hör auf mit der Fragerei, Sid. Nimm es einfach hin. Wir werden gehen, das ist am besten.«
Bevor der Vorschlag der Frau in die Tat umgesetzt werden konnte, machte ich den Anfang. »Nein, sie können ruhig bleiben. Ich wollte sowieso verschwinden.«
Sidney versuchte, mich aufzuhalten. Er faßte mich an. »Hören Sie, das ist bestimmt ein Mißverständnis. Nehmen wir einen Drink. Wir sind alle urlaubsreif.«
»Später vielleicht - danke.« Ich nickte ihnen noch zu, ließ sie dann stehen und lauschte meinen eigenen Schritten nach, als ich am Ufer entlangspazierte.
»Und ich hasse dich doch«, rief der Junge hinter mir her. »Er ist wegen mir gekommen…«
Seine Mutter antwortete. Leider konnte ich nicht verstehen, was sie sagte. Ich hatte die Familie erst kurze Zeit beobachten können. Mir war schon jetzt aufgefallen, daß der Junge zu seiner Mutter ein anderes Verhältnis hatte als zu seinem Vater. Es war vertrauensvoller, und sie schien auch mehr Verständnis für ihn zu haben.
Wenn ich davon ausging, daß mich der Junge haßte, mußte es einen Grund geben. Es gibt Menschen, die sind einander vom ersten Augenblick an unsympathisch. Das wußte ich, das kannte ich auch, davon war auch ich nicht verschont geblieben.
Aber mir auf den Kopf zuzusagen, daß mich jemand haßte, dazu noch ein Junge, das mußte einen anderen Grund haben. Und der hing meines Erachtens mit meinem Job zusammen. Mario mußte gespürt haben, wer ich war. Vielleicht hatte er die Strahlung meines Kreuzes mitbekommen, und wenn er auf der anderen Seite stand, konnte nur Haß die Reaktion sein.
Auf der anderen Seite…
Darüber mußte ich nachdenken. Sir James hatte mich vor dem Jungen indirekt gewarnt, und von nun an nahm ich die Warnungen ernst. Der Junge bildete eine Gefahr.
Und er schwebte in Gefahr, denn ich hatte nicht vergessen, weshalb er und seine Eltern hier am Eibsee lebten.
Ich ging davon aus, daß sich etwas über unseren Köpfen zusammenbraute. Und besonders über meinem nahm die Wolke schon an Dichte zu…
***
In dem etwas abseits liegenden Grab tat sich einiges. Tief in der Erde rumorte es. Da lag ein Körper, der nicht verwest war und zu der seltenen Gattung der Wachsleichen zählen mußte. Es gab sie nicht oft, aber es gab sie.
Immer wieder wurden sie bei irgendwelchen Umbettungen gefunden, und immer wieder standen die Friedhofsarbeiter vor dem Grauen, wenn sie die Gräber geöffnet
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