0766 - Das Grauen von Grainau
durchatmete.
Die Luft kam ihm würzig vor, nach dem muffigen Schuppen war sie der reinste Balsam. Er hielt sich noch immer allein auf dem Friedhof auf. Wenigstens in dem Gebiet, das er überblicken konnte.
Weiter unten, wo die beiden anderen Terrassen lagen, bewegten sich ältere Frauen durch die Reihen.
Es waren die drei, die dem Friedhof jeden Tag einen Besuch abstatteten, um nach den Gräbern ihrer verstorbenen Männer zu sehen.
Es war alles normal…
Er wollte mit seiner Bestandsaufnahme an der oberen Fläche beginnen. Und zwar dort, wo das Gräberfeld sein Ende zeigte und Buschwerk die Grenze bildete.
Dort ging er hin und fühlte sich mit jedem Meter, der hinter ihm lag, unwohler.
Gewisse Dinge störten ihn, wobei er nicht sagen konnte, welche es denn waren.
Lag es vielleicht an der Luft, die ziemlich drückte, oder an dem leicht bewölkten Himmel. Der Pfarrer hatte recht, das Wetter würde sich ändern. Noch waren die Grate der Berge deutlich zu sehen, aber nicht mehr lange.
Er blieb stehen, und als er den Kopf drehte, da sah er auch die drei Gräber der Nichteinheimischen.
Huber biß sich auf die Lippe. Er wußte selbst nicht, weshalb diese Grabstätten sein Interesse auf sich zogen, da war irgend etwas, das er sich nicht erklären konnte. Er kannte sie und hatte sich bisher nie großartig dafür interessiert. Heute jedoch kamen sie ihm anders vor.
Kreuze gab es nicht.
Alte Steine waren in die Erde gerammt worden. Im Laufe der langen Jahre hatten sie durch Bodenbewegungen ihre Haltung etwas verändert und standen jetzt schief.
Das war auch normal.
Trotzdem ging Huber hin. Es drang keine Stimme aus dem Grab, die ihn gerufen hätte, es war für ihn trotzdem wie ein Zwang, der ihn in die direkte Nähe des Ziels trieb.
Warum lockte ihn ein Grab?
Huber leckte über seine Lippen. Sie waren ebenso trocken gewesen, wie der Mund noch trocken war. Er schien seine Kehle mit Sand ausgespült zu haben. Der Boden war nicht anders als sonst. Er war weich und von Unkraut überwuchert, denn um diese Gräber kümmerte sich niemand.
Sie gehörten zu einem Stück Vergangenheit, an das die Menschen hier nicht gern erinnert wurden.
Vor dem größten Grab blieb er stehen. Der Stein wirkte wie ein Klotz, er war eigentlich zu groß für die letzte Ruhestätte. Etwas störte ihn. Sepp Huber arbeitete schon relativ lange auf dem Friedhof.
Er hatte sich mit dieser Umgebung abgefunden, hatte sie nicht einmal als fremd angesehen und fürchtete sich erst recht nicht vor den Toten, was auch nicht nötig war.
Heute sah das anders aus. Da kamen ihm die Gräber unheimlich vor. Obwohl sie so aussahen wie immer, waren sie doch anders geworden. Sie schienen etwas zu verbergen, das sie bisher geheimgehalten hatten. Gleichzeitig sagte sich Huber, daß es Quatsch war. Über viele Jahrzehnte hatte sich bei den Gräbern nichts getan, warum, zum Henker, hätte sich jetzt etwas verändern sollen?
Das entbehrte jeder Grundlage. Es war alles die reinste Spekulation, er ließ sich allein durch den Anblick der mit Moos bewachsenen Steine in Angst jagen, anstatt mit seiner eigentlichen Arbeit zu beginnen.
Doch Huber blieb stehen.
Es gab da eine unerklärliche Kraft, die ihn auf der Stelle bannte. Sie war da, sie war anders, sie erinnerte ihn an ein Gefühl, das sich über den Friedhof gelegt hatte. Sie drang nur aus einer Richtung auf ihn ein.
Aus dem Grab…
Er schluckte. Hätte er jetzt einen Spiegel gehabt und hineingeschaut, hätte er sehen können, wie bleich er geworden war. Eine tiefe Furcht hielt ihn umklammert. Seltsamerweise gab ihm die Nähe der Kirche auch kein sicheres Gefühl. Hier war einfach alles schrecklich geworden. Es hatte sich einiges verändert, ohne daß eine äußerliche Veränderung vorgenommen worden wäre.
Huber senkte den Kopf. An seine Arbeit dachte er nicht mehr, ihn interessierte allein das Grab.
Plötzlich weiteten sich seine Augen.
Er hatte etwas gesehen!
Es war schrecklich und unbegreiflich zugleich. Ihn durchschoß ein regelrechter Schauerschock, die Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus. Sie bewegte sich kriechend wie ein Schauer der Furcht, und er konnte sich nicht rühren.
Etwas war mit dem Grab vor ihm geschehen. Nicht mit der gesamten Fläche, sondern nur mit dem Mittelteil, denn dort hatte sich etwas bewegt. Da zitterte die Erde!
Er hielt den Atem an!
Im ersten Augenblick konnte er nicht logisch denken. Zudem gab es keinen Grund, weshalb sich die Erde hätte bewegen können.
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