0766 - Das Grauen von Grainau
Der Wind wehte sanft und warm, er war kein Sturm, der an irgendwelchen Dingen gerüttelt hätte. Die Erde auf dem Grab konnte sich einfach nicht bewegen, das war unmöglich.
Doch tat sie es.
Da hatten sich kleine Risse gebildet. Krumen rollten von einer Seite auf die andere. Huber glaubte sogar, Löcher zu sehen, als wäre die Graberde ein alter Käse.
Das war furchtbar.
Er schaute weiter hin. Starr stand er mit beiden Beinen auf dem Boden, als hätte man ihn dort festgenagelt. Sein Blick galt einzig und allein dem Grab, wo die Oberfläche in der Mitte einfach nicht zur Ruhe kommen wollte.
Er dachte nach, auch wenn er es gar nicht so direkt mitbekam. Daß dies überhaupt hatte geschehen können, ließ nur den einen Schluß zu. Im Innern des Grabes mußte es eine Kraft geben, die für diesen Vorgang gesorgt hatte. Eigentlich unmöglich, dafür gab es keine Erklärung, denn ein Toter war und blieb tot.
Oder?…
Huber erinnerte sich an einige Gruselfilme, die vor kurzem im Programm eines Privatsenders gelaufen waren. Da hatte er die reitenden Leichen gesehen und andere Dinge, die einem Zuschauer Schrecken einjagen konnten, wobei er die Filme eigentlich lustig gefunden hatte, sie waren mehr eine Erinnerung an die Siebziger gewesen.
Das hier war echt.
Und er war die Hauptperson neben einem Grab, in dem ein unheimliches und unheiliges Leben steckte.
In der Tiefe verborgen hatte es erwachen können und mußte auf dem Weg nach oben sein.
Er schluckte. Eisen steckte in seiner Kehle. Die Angst nahm zu, und die Erde vor ihm bewegte sich weiter. Huber rechnete damit, daß jeden Augenblick eine Knochenhand aus dem Grab dringen und nach ihm greifen würde.
Möglich war alles…
Er mußte weg.
Aber wie?
Für einen Moment irrten seine Gedanken ab. Er dachte an Lichtenegger. Ihn überkam die Vorstellung, daß der Gärtner in diesem Grab liegen könnte und nun versuchte, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Huber schüttelte sich. Zu grauenhaft war diese Vorstellung. Dafür gelang es ihm, den Kopf nach rechts zu drehen und einen Blick auf die Kirche zu werfen. Ihr Mauerwerk und der hohe Turm flößten ihm noch immer kein Vertrauen ein, aber sie lenkten ihn von seinen schlimmen Gedanken ab, so daß er wieder zu sich selbst fand.
Sepp Huber tat das einzig richtige in seiner Situation. Er hob mühsam den rechten Arm und schlug ebenso mühsam ein Kreuzzeichen. Die Geste war ein altes Hausmittel gegen Alpträume, das hatte ihm seine Großmutter immer gesagt.
Urplötzlich brach der Bann!
Er konnte wieder frei reden, er konnte wieder atmen, er sprach ein hastiges Gebet, er fühlte sich besser, doch die Angst war geblieben. Sie trieb ihn auch von der Grabstätte weg.
Sepp Huber rannte so schnell wie nie zuvor über den Friedhof und war froh, ihn verlassen zu können. So schnell würde er sich nicht mehr in die Nähe der fremden Gräber wagen.
Er lief in eine Gastwirtschaft, bestellte sich ein großes Bier und zwei Obstler. Als der Wirt die Getränke brachte, fiel ihm der Zustand des jungen Mannes auf.
»Du bist bleich wie meine Kellerwand, Sepp!«
»Bin ich das?«
»Klar.«
Er kippte den ersten Obstler. »Ich war auf dem Friedhof«, erklärte er schluckend und schaute dabei gegen die Berge. »Glaubst du, daß die Toten tot sind, Paul?«
»Ja, Mann. Was soll der Mist?«
»Ich habe es auch geglaubt«, flüsterte Sepp Huber. »Jetzt aber bin ich mir nicht mehr sicher.« Er griff zum Glas und schüttelte den zweiten Obstler in die Kehle…
***
Ich war auf mein Zimmer gegangen, hatte die Terrassentür spaltbreit geöffnet, um Luft in die Räume zu lassen, mich rücklings auf das Bett gelegt und über die Familie Davies, insbesondere über Mario, nachgedacht.
Er war das Problem!
Ich dachte an die Szene der Kontaktaufnahme und konnte darüber nur den Kopf schütteln. Niemals zuvor hatte ich einen derartigen Jungen erlebt. Er haßte mich, ich hatte es gespürt, und dabei war ich ihm völlig unbekannt. Etwas an mir mußte ihn gestört haben. Ich ging davon aus, daß es mein Kreuz war. Wenn das den Tatsachen entsprach, stand der Junge auf der anderen Seite, dann war er mein Feind und gleichzeitig ein Freund unheimlicher, schwarzmagischer Kräfte.
Mario liebte die Toten!
Ich knirschte mit den Zähnen, als ich daran dachte. Das war verrückt, nicht nachvollziehbar. Was trieb einen Fünfzehnjährigen dazu, so zu denken?
Ich konnte es mir nicht vorstellen, es wollte einfach nicht in meinen Schädel hinein. Da mußten
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