0766 - Das Grauen von Grainau
hatten. Sie mußten die Wachsleichen mit den Händen aus den Gräbern holen, um sie an einen anderen Platz zu schaffen.
Nur waren die Wachsleichen eben Leichen und bewegten sich nicht. Das sah bei diesem Toten auf dem Grainauer Friedhof anders aus. Er war zu einer Wachsleiche geworden, und er lebte noch. Er konnte sich bewegen, er lag in seinem Grab und wollte auf keinen Fall noch länger unter der Erde liegen.
Er mußte raus!
Ein Hindernis hatte er aus dem Weg geschafft. Er spürte noch jetzt das Gefühl der Sättigung und auch den feuchten Schleimschleier, der sich um seinen Körper gelegt hatte.
Diese Tatsache wies darauf hin, daß der Tote nicht nur ein Zombie, eine lebende Leiche war, sondern gleichzeitig noch etwas viel Grausameres und Schlimmeres.
Er war ein Ghoul, ein Leichenfresser!
Und jetzt war er satt! Dadurch hatte er auch Kraft sammeln können, denn die brauchte er, weil ein langer und beschwerlicher Weg vor ihm lag, der ihn an die Oberfläche und damit auch ins Freie bringen sollte, wo er dann mehr Opfer finden würde.
Zudem wußte er sich nicht allein in der Welt der Lebenden. Er hatte dort einen Freund, er war gelockt worden, jemand, der es verstanden hatte, die Tiefe des Grabes mit seinen Gedanken zu durchdringen und sich mit ihm in Verbindung zu setzen.
Alles würde gut werden.
Er brauchte nur den Weg nach oben zu schaffen, und dabei konnte er sich Zeit lassen, denn er wollte das Grab erst verlassen, wenn sich die Dunkelheit über den Friedhof gelegt hatte.
Das war dann die Zeit der lebenden Leichen, die Stunde der Ghouls, wo sie sich auf die Suche nach den Opfern machten.
In seinem Gesicht zuckte es. Er konnte die Arme jetzt gut bewegen, der Schleim wirkte wie Schmieröl, und er führte eine Hand auf sein Gesicht zu. Mit den Fingern tastete er darüber hinweg und stach dabei in sein Auge hinein.
Es war leer.
Noch immer leer.
Auch nach so langer Zeit. Man hatte es ihm herausgeschossen, aber er hatte es zurückbekommen und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger fest wie eine kostbare Beute.
Die Menschen würden sich wundern.
Und mit diesem Gedanken machte er sich an die Arbeit und versuchte, das Grab zu verlassen…
***
Wenn dem Hauptgärtner die Arbeit zuviel wurde, dann griff er stets auf einen Helfer zurück. Dieser junge Mann hieß Sepp Huber, war ein Urbayer und gehörte im Ort zu den Leuten, die immer da einsprangen, wo Arbeit anlag, und er konnte sich über einen Mangel an Beschäftigung nicht beklagen.
Mal war er dabei, wenn der Minigolfplatz gereinigt wurde, dann wiederum half er mit, das Schwimmbad zu säubern, auf das die Gemeinde sehr stolz sein konnte. Er fegte auch die Straßen, beschnitt Bäume oder führte Touristengruppen auf versteckten Wanderwegen in die Berge, wo er ihnen viel über die Natur zu erzählen wußte.
Sepp Huber war Mädchen für alles, und er fühlte sich in dieser Rolle sauwohl.
An diesem Tag sollte der fünfundzwanzigjährige junge Mann dem Friedhofsgärtner dabei helfen, einige Gräber für den Herbst und Winter vorzubereiten. Sie würden alles noch einmal überholen, das Werkzeug reinigen und kleine Löcher an den Grabrandmauern markieren, die später geflickt werden konnten.
Das alles konnte er, und es machte ihm an einem sonnigen Tag wie diesem besonderen Spaß.
Weniger Spaß bereitete ihm die Tatsache, daß sein ›Chef‹ noch nicht gekommen war. Sie waren für neun verabredet gewesen. Jetzt zeigte die Uhr bereits halb zehn, und der Mann war noch immer nicht erschienen. Das kam Huber komisch vor.
Wenn es umgekehrt gewesen wäre, okay, denn er gehörte zu den Leuten, die am Abend schon mal versumpften und am anderen Morgen entsprechend aussahen, aber nicht Lichtenegger, der Gärtner.
Der war die Pünktlichkeit in Person, eine Verspätung hatte es bei ihm noch nie gegeben, auch wenn er mal betrunken gewesen war.
»Wer saufen kann, der kann auch arbeiten«, hatte er immer gesagt und sich daran gehalten.
Lichtenegger war ebenso Junggeselle wie auch Sepp Huber. Keine Frau sorgte dafür, daß er pünktlich aus dem Bett kam, und Sepp wollte ihm noch eine halbe Stunde geben, bevor er sich aufmachte, ihn zu besuchen. So blieb er auf seinem Platz sitzen, der kleinen Bank, die auf dem Hügel stand.
Hinter ihm lag das Gelände des Friedhofs, und rechts von ihm die Kirche, die sich längst geleert hatte, weil die erste Messe schon gelaufen war.
Er schaute auf die Straße. An ihr lagen zwei Lokale. Sie erhielten Getränke-Nachschub. Lastwagen
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